TKP – Zentral Komitee

Krieg oder Fernsehserie!

Im Hinblick auf die Kriegslust von Tayyip Erdogan teilen wir hier ein Interview mit Kemal Okuyan, dem Generalsekretär der TKP. Dieses Interview wurde am 12. Februar 2020 in der Internetzeitung der TKP „soL“ veröffentlicht.
Bezugnehmend auf die syrische Armee sagte Erdoğan, im Falle von Interventionen gegen die Beobachtungsposten der Türkei, würden die Regimekräfte mit harten Reaktionen rechnen müssen. Was könnte das bedeuten?
Das kann nur so interpretiert werden: Die Souveränität eines Landes wird nicht akzeptiert. Lassen Sie uns einmal alles zusammenfassen. Die Beobachtungsposten sind außerhalb der türkischen Grenzen, somit auf dem Boden eines anderen Staates. Von syrischer Seite wissen wir, dass die Militärpräsenz der Türkei – einschließlich genannter Beobachtungsposten – in keinster Weise akzeptiert wird. Und Syrien war im Versöhnungsprozess von Astana, durch das die Türkei die Militärpräsenz legitimiert, kein Verhandlungspartner. Sie hatten erklärt, dass sie die zwischen Russland, dem Iran und der Türkei entstandene Übereinstimmung nur unter der Bedingung akzeptieren, wenn es hilft Idlib von den Terroristen zu befreien. Jedoch bleiben trotz der langen Zeit bewaffnete Kräfte in Idlib, die nicht nur von Syrien, sondern auch von anderen Ländern als „Terroristen“ bezeichnet werden. Die Zusammenarbeit der Türkei mit diesen Kräften wurde sogar von vielen offiziellen Seiten bestätigt. Also ergeben sich zwei Probleme. Syrien als ein souveräner Staat akzeptiert die Präsenz der Türkei nicht und verlangt, dass die Türkei Syrien verlässt. Russland und der Iran kritisieren die Türkei damit, dem Paralysieren der Terroristen nicht nachgegangen und damit der Verpflichtung nicht gerecht worden zu sein.
Aber auch Erdoğan wirft Vertragsbruch vor, besonders Russland!
Das ist eine interessante Situation. Für die Türkei stellt der Astana Versöhnungsprozess, die Übertragung der ultimativen Kontrolle über einen Teil syrischen Bodens auf die Türkei dar. Die Astana Vereinbarung sah aber vor, dass die bewaffneten Kräfte außer Gefecht gesetzt werden, ohne dass die Zivilbevölkerung einen Schaden davonträgt bzw. ohne, dass eine weitere große Migrationswelle ausgelöst werden sollte. Das eigentliche Ziel war also die Außerkraftsetzung von bewaffneten Gruppen. Jetzt aber, genau dies ignorierend zu sagen „es gibt eine Migrationswelle, Zivilisten tragen einen Schaden davon“ ist die Umkehrung von Ursache und Wirkung in dieser Sache. Außerdem hat Erdoğan heute wieder hervorgehoben, dass „Esad sein Volk quäle“. Jeder Mensch in der Türkei weiß doch was das zu bedeuten hat.
Ist das nicht ein Demokratie-Export?
Genauso ist es! Jahrelang haben imperialistische Länder mit dem Vorwand der Beseitigung von Diktaturen unterschiedlichen Ortes eingegriffen. Zeitweise standen auch für die Türkei solche Forderungen im Raum. In solchen Fällen haben wir immer betont, dass der Widerstand gegen die Unterdrückung eine Aufgabe des Volkes ist und man absolut gegen ein solches Eingreifen von außen sein sollte. Es ist ständig die Rede von FETÖ(1), die aber auch als Teil dieser Demagogie durch die imperialistischen Länder etabliert wurden. Jetzt behaupten die Machthaber der Türkei, sie würden „Demokratie und Freiheit“ nach Syrien bringen.
Kann das glaubwürdig sein? Deckt sich das mit der Realität?
Zu sagen, „Ich akzeptiere das Regime in Syrien nicht, mir gefällt es nicht“ ist eine Einladung an die von der EU angeführten NATO-Kräfte. Es heißt also: „Ich bin bereit, lasst uns Asad gemeinsam stürzen“. Dafür gibt es keine andere Erklärung! Ohnehin hat Hulusi Akar(2) bereits einen offenen Aufruf an die NATO gerichtet. Denn das Völkerrecht kennt kein „Ich mag es nicht“! Wissen die überhaupt was sie sagen? Heute gibt es so einige Länder, welche die politischen Machthaber in der Türkei nicht besonders mögen. Kann das ein Argument sein? Die Welt von heute ist keine, in der Länder mit solchen Argumenten infrage gestellt bzw. in die eingegriffen werden kann. Wenn wir also von Gerechtigkeit sprechen wollten, müssten wir wohl von der Besatzung der imperialistischen Länder durch die armen Völker sprechen. Aber der Standpunkt der Machthaber in der Türkei ist „ich kenne keinen Staat namens Syrien“. Eine andere Erklärung gibt es nicht.
Bahçeli, der inoffizielle Partner der Machthaber sagte, Syrien solle wegbrennen. Kann eine solche Maßlosigkeit in der Außenpolitik funktionieren?
Ich glaube nicht, dass auf dem internationalen Parkett irgendjemand Bahçeli(3) ernst nimmt. Andererseits zwingt es uns, diese rücksichtslose Aussage, doch auch ernst zu nehmen. Gerade, weil sie in einer solchen furchtbaren politischen Atmosphäre zum Ausdruck kommt. Wenn man diese nun zusammenführt, stellt sich heraus, dass wir es mit einer Mentalität zu tun haben, die Syrien in Brand stecken würde, um nach Syrien die Demokratie zu bringen. Aber auf der anderen Seite heißt es auch: „wir haben kein territoriales Interesse an Syrien“. Aber irgendwie passt das alles nicht in ein Bild.
Historisch betrachtet, waren die, die andere Länder aus unterschiedlichen Gründen besetzten, auch immer Kollaborateure bei der Besetzung Ihrer eigenen Länder. Bis 1871 haben die herrschenden Franzosen viele Länder besetzt und dieselben haben die Besetzung Frankreichs durch Deutschland akzeptiert. Die gleichen französischen Imperialisten akzeptierten 1940 auch die Besetzung durch das Nazi-Deutschland. Die Arrogantesten und feindseligen unter ihnen kollaborierte sogar mit den Besatzern.
Als die hochrangigen Offiziere der Hitler-Armee, die in Frankreich einmarschierten, von der Roten Armee besiegt wurden, flüchteten die meisten von ihnen in britische und US-amerikanische Truppen, und boten hier ihre Dienste an. Man könnte hier noch lange weiter aufzählen. Wer andere Länder besetzt, wird zum Zuschauer, wenn das eigene Land von anderen besetzt wird. Das liegt in der Logik des Imperialistischen. Außerdem ist es auch moralisch so. Griechische Nationalisten, die 1919 in Anatolien einmarschierten, widersetzten sich während des Zweiten Weltkriegs weder den Italienern noch den Deutschen oder den Briten. Im Gegenteil, es kamen viele Kollaborateure hervor. Die Kommunisten waren es, die die Würde Griechenlands retteten. Hat Nationalismus und Militarismus dieser Welt je etwas Gutes gebracht? Nur Zerstörung!
Gibt es also eine wirkliche Kriegsgefahr? Könnten die Spannungen in Syrien eine Konfrontation zwischen der Türkei und Russland zur Folge haben?
Wie wir immer betonen, der Wettbewerb und die Widersprüche im Komplex des imperialistischen Lagers erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Und die Türkei steckt mitten drin. Das Problem ist nicht nur die AKP, sondern die herrschende Klasse schielt auch nach neuen Märkten und (Energie)-Ressourcen. Das gilt für das Kapital Griechenlands, genauso wie für andere Länder auch. Jeder versucht also einen Teil des Kuchens zu ergattern und bewaffnet sich dafür schon einmal. Es gibt keine Unschuldslämmer! Aber die Türkei ist in letzter Zeit an zu vielen Fronten Teil der Spannungen geworden. Hinzu kommt eine Atmosphäre, die das Antikriegsbewusstsein der Gesellschaft untergräbt. Die Türkei hat die Zerstörung des 2. Weltkrieg nicht erlebt. Wenn man militärische Operationen im Ausland und Kämpfe im Inland bei Seite lässt, kann man sagen, dass wir ein Land sind, das die Auswirkungen eines umfassenden Kriegs vergessen hat. Deswegen finden Aussagen wie „Wir marschieren in Damaskus ein“ keine Resonanz. Wenn im starken imperialistischen Deutschland ein Politiker von der Notwendigkeit sprechen würde, in Warschau einzumarschieren, würde das einen großen Skandal verursachen. Denn was auch immer passieren mag, die deutsche Gesellschaft hat das Trauma der zwei Kriege noch nicht überwunden. Das sollten sie auch nicht!
Doch in der Türkei verwechseln viele einen Krieg mit einer Fernsehserie.
Kann für Erdoğan von Annäherungsversuchen Richtung USA gesprochen werden? Oder andersrum. Besteht das Risiko für eine Konfrontation zwischen Russland und der Türkei?
Erdoğans starke Beziehungen zu Russland hat mehrere Gründe. Der erste Grund ist, die Suche des türkischen Kapitals nach einer besseren Position in der Weltordnung, die sich im Umbruch befindet. Ein anderer, damit zusammenhängender Grund ist, dass das türkische Kapital die Nähe zu Russland und China, weil sie neue wirtschaftliche und politische Spielräume verschaffen, als Faustpfand in der Beziehung zum Westen nutzt. Das Dritte ist das Fortbestehen Erdoğans. Ohne die Unterstützung Putins, hätte Erdoğan die Angriffe des Westens nicht überstanden. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit, um die Beziehungen mit Deutschland und den USA zurechtzurücken. Es war sowieso für die Türkei nie möglich die Beziehungen zu westlichen Imperialisten gänzlich zu kappen. Dafür fehlen politische, militärische, wirtschaftliche und ideologische Grundlagen. Aber eine Positionierung, die mehr Handlungsraum verschaffen würde, war und ist auch immer noch möglich. Damit Erdoğan die Russland-Karte auf einen Schlaf und für immer verspielt, braucht es viel mehr. Ob es ein solches Deutschland und eine solche USA gibt, die mitspielen würden, ist ungewiss. Und die Situation kann unter Umständen jederzeit auch außer Kontrolle geraten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Russland im Syrienkonflikt zurücktritt, ist trotz der kriegerischen Rhetorik Erdoğans, viel geringer als die Wahrscheinlichkeit das die Türkei es tut. Die USA hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie für Idlib sich mit Russland nicht anlegen werden. Für die AKP sieht es also in Syrien ziemlich schwierig aus.
Tappt die Türkei hier tatsächlich in eine Falle?
Der Vorwand einer Falle zieht nicht mehr. Als ob die Akteure in der Türkei keine eigenen politischen Handlungen vollziehen würden und weder Absichten noch eigene Ziele hätten. Die Opposition spricht in der Innenpolitik in Bezug auf Erdoğan auch immer von Betörung und Täuschung. Welch ein Unsinn! Warum widerspricht man ihm dann, wen er sagt: „Fethullah hat uns betrogen“. In der imperialistischen Welt gibt es keine Freundschaft. Jeder stellt dem anderen Fallen und sobald es notwendig wird, zieht jeder jeden über den Tisch. Natürlich im Ermessen der eigenen Macht!
Daher sollte unter diesen Umständen nicht die Rede von einer Falle sein, sondern das wesentliche des Problems sollte aufgedeckt werden.

Wie bewerten sie den Standpunkt der Opposition in Bezug auf Syrien?
Erst einmal ist zu betonen, dass ein Teil der Opposition sich an der Seite der USA positioniert. Das ist peinlich. Sie können sich kaum zurückhalten. Man kann konkrete Namen aufzählen. Und aufseiten der AKP, ist schon seit einiger Zeit zu hören, dass ein Russe kein Freund werden kann. Die Medien, mit wenigen Ausnahmen, die noch vor kurzem mit anti-USA und anti-Imperialismus hausierten, greifen nun den „Russischen Bären“ an. Dasselbe macht die Presse in Russland. Der einstige Volksheld Erdoğan, sei nun zum Schutzpatron der Dschihadisten geworden. Also, man sollte in einer solchen Welt die Illusion von Freundschaften aufgeben. Die arbeitenden Völker sind Freunde und sollten auch Freunde sein. Waffenhändler, Immobilienmonopole und Energieunternehmen können nur Feindschaften und Kriege hervorbringen. Die Opposition orientiert sich auch in diese Richtung. Ihre NATO-Liebe wird zunehmend sichtbar. Unsere Menschen sollten das nicht vergessen, sie sollten es sich hinter die Ohren schreiben, damit sie es Ihnen vor die Füße werfen können, wenn die Opposition wieder einmal meint von „anti-imperialistisch“ sprechen zu wollen
(1) FETÖ ist die Verkürzung für die Gülen-Sekte, die am Anfang ein enger Partner der AKP-Bewegung war. Nach dem Versuch des Staatsstreichs wurde sie eine Terrororganisation genannt.
(2) Hulusi Akar ist der ehem. Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Türkei und nach seiner Pensionierung wurde er Verteidigungsminister der AKP-Regierung ernannt.
(3) Bahçeli ist der Vorsitzende der faschistischen nationalistische Bewegungspartei (MHP). Er und seine Partei sind wichtige Unterstützer von Erdogan, der mittlerweile seine WählerInnen verliert.