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Der wissenschaftliche Ausschuss hat sich in das Propagandaapparat der Regierung verwandelt!

Die Akademie für Wissenschaft und Aufklärung (Bilim ve Aydınlanma Akademisi – BAA), eine der wichtigsten wissenschaftlichen Organisationen in der Türkei, die auf materialistischer Basis Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen in sich vereint, hatte kurz nach Ausbruch der Pandemie in der Türkei die Mitglieder des offiziellen wissenschaftlichen Ausschusses, das zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie gegründet wurde,  aufgrund ihrer ineffektiven Haltung zum Rücktritt aufgefordert. Angesichts der aktuellen Entwicklungen, die sich am vergangenen Wochenende bezüglich der Ausgangssperre in der Türkei ereigneten, erklärt die  Akademie für Wissenschaft und Aufklärung erneut: „Die Tatsache, dass die Mitglieder des wissenschaftlichen Ausschusses die Fakten ignorieren und über Dinge sprechen, über die sie keine Ahnung haben, beweist, dass sie bewusst die Funktion des Propagandaapparats der Regierung übernommen haben. Dieser Ausschuss ist absolut unzuverlässig. Wir rufen den Vorstand nicht mehr zum Rücktritt auf, sondern geben uns nur damit zufrieden, ihre Stellung zu verdeutlichen.“
 

Die vollständige Erklärung der Akademie für Wissenschaft und Aufklärung lautet wie folgt:

„Als Akademie für Wissenschaft und Aufklärung haben wir den wissenschaftlichen Ausschuss aufgerufen, zurückzutreten und die Würde der Wissenschaft zu retten, da ihre Ratschläge seitens der Regierung keineswegs beachtet werden.

Wir haben beobachtet, dass der Ausschuss unseren Aufruf ignorierte und sich im Laufe der Zeit zum Propagandaapparat der Regierung weiterentwickelte.

In den TV-Sendungen, in denen Mitglieder des wissenschaftlichen Ausschusses einzeln oder in Gruppen auftreten, wagen sie es ohne jeden Widerspruch zu behaupten, dass die „Regierung“ alle für die Steuerung der Pandemie erforderlichen Maßnahmen getroffen habe, die Regierung in dieser Hinsicht eine erfolgreiche Arbeit leiste; dass die Qualität der  Ärzte und der medizinischen Ausbildung in der Türkei sehr weit fortgeschritten sei und sogar die „entwickelten Länder“ der Welt übertreffe; dass in Intensivpflegediensten keinerlei Probleme vorhanden seien und die Türkei auch hier den Ländern „mit hohem Einkommen“ weit voraus sei; dass die im Vergleich zu Europa und den Vereinigten Staaten niedrige Todeszahl als Indikator für die Qualität des Gesundheitswesens der Türkei zu betrachten sei; dass die Pandemie sich weiter ausbreiten werde, bis bei 60% der Bevölkerung eine Immunität entsteht und die Ausbreitung nicht zu verhindern sei.

Jedoch, wie wir bereits in unserem vor kurzem veröffenlichten Bericht „Der Verlauf der Pandemie-Steuerung in der Türkei“ schon erwähnt haben, weist die Regierung im Pandemieverlauf sehr wichtige Defizite auf. Diese Situation deutet hauptsächlich auf eine Führungskrise hin. Was dieses Problem bedeutet und in welchem Ausmaß es in Erscheinung tritt, wurde am Freitagabend, dem 10. April, mit der Ankündigung der Ausgangssperre für jeden sichtbar.

Eine der ersten Voraussetzungen für einen Erfolg in der Pandemiebekämpfung eines Landes besteht darin, alle Daten explizit an alle Zuständigen weiterzugeben. Das Gesundheitsministerium hat schon länger keine Daten mehr veröffentlicht. Auch gegenwärtig sind Daten bezüglich der Pandemie unbekannt. Derzeit liegen die Testzahlen weit hinter den europäischen Ländern, und weil Kontaktpersonen nicht getestet werden, ist die Dunkelziffer als sehr viel höher zu vermuten, als die täglich bekanntgegebenen Zahlen darstellen. Darüber hinaus werden Todesfälle nicht im Rahmen des Algorithmus der Weltgesundheitsorganisation gemeldet. Obwohl all dies Präferenzen sind, die die Zuverlässigkeit offizieller Daten in großem Ausmaß untergraben, werden sie vom Ausschuss ignoriert.

Im Gesundheitswesen der Türkei sind schon seit eh und je sehr große Probleme gegeben. Zum Beispiel ist die primäre Gesundheitsversorgung zusammengebrochen, Krankenhäuser wurden in Unternehmen umgewandelt, Bürger*innen werden in keiner Gesundheitseinrichtung ohne Eigenbeitrag versorgt. Im Zusammenhang mit all diesen Umständen liegt die Kindersterblichkeit in der Türkei nach wie vor über dem zu erwartenden Durchschnitt. Die Türkei bildet bezüglich der Anzahl von Ärzten, Krankenschwestern und Krankenhausbetten pro Kopf und Gesundheitsausgaben pro Person das Schlusslicht unter den OECD-Ländern.

Die medizinische Ausbildung in der Türkei ist auch seit Ewigkeiten problematisch. Untersuchungen der türkischen Ärztekammer und den Fachgebieten für öffentliche Gesundheit verschiedener Universitäten heben diese Tatsache deutlich hervor. Zum Beispiel fühlen sich zwei Drittel der Absolventen, die kurz vor dem Abschluss stehen, ungenügend qualifiziert, um in der Grundversorgung zu arbeiten. In diesem Land gibt es Medizinstudenten im praktischen Jahr, die ihr Studium abschließen, ohne ein Praktikum in Kinderheilkunde gemacht zu haben, weil es in dem Fachgebiet keine Dozenten gibt.

Dass die Bevölkerung sehr jung ist und sich im Verlauf der Pandemie eine Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten entwickelt haben, sind Hauptgründe für die Tatsache, dass sich die pandemiebedingten Todeszahlen in der Türkei im Vergleich zu den europäischen Ländern auf einem niedrigen Grad halten ließ. Aber den Sachverhalt, dass die Anzahl der Intensivbetten in der Türkei im Vergleich zu Italien höher sind, als ein „Beweis für die Fortschrittlichkeit unseres Gesundheitssystems“ zu bewerten, bestätigt einen Wissensmangel bezüglich der Thematik.

Denn die AKP-Regierung hob im Rahmen des Gesundheitstransformationsprogramms die Krankenhäuser besonders hervor, prägte ein verzerrtes Verständniss von Gesundheit, dassausschließlich Krankenhäuser, Behandlungs- und Intensivpflegedienste meinte und förderte durch große Investitionen in den Intensivpflegediensten den Gesundheitstourismus. Während es wichtig gewesen wäre, in das primäre Gesundheitssystem und in präventive Gesundheitsdienste zu investieren, ist dies nicht erfolgt und somit  ist das primäre Gesundheitssystem  mit Ausbruch der Pandemie jetzt vollständig deaktiviert. Nun wird versucht, die daraus resultierende Belastung durch Krankenhäuser zu decken und dieses verzerrte Bild wird von den Mitgliedern des wissenschaftlichen Ausschusses als Erfolgsgeschichte deklariert.

Andererseits können Pandemien verhindert werden. Denn die Ursachen sind vermeidbare qualitative Probleme wie Armut, schlechte Lebensverhältnisse und schlechte Arbeitsbedingungen.

Während dies die Zustände sind und die Frage offen steht, in wie Fern eine Immunität selbst bei Betroffenen, die die Krankheit überstanden haben, eintritt und wie lange diese Immunität anhält, werden Äußerungen wie: „Die Pandemie wird so lange fortbestehen, bis 60% der Gesellschaft Immunität gewinnt. Wir werden dies nicht verhindern können. Unser Ziel ist es, das Gesundheitssystem zu entlasten“ gemacht. Das ist nur der Beweis dafür, dass von Anfang an diese Umgangsweise legitimiert werden sollte und dient dazu, die Defizite der Pandemiesteuerung zu verhüllen.

Die Tatsache, dass die Mitglieder des wissenschaftlichen Ausschusses die Fakten ignorieren und über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung haben, beweist, dass sie bewusst die Funktion des Propagandaapparats der Regierung übernehmen.

Dieser Ausschuss ist absolut unzuverlässig.

Wir rufen den Vorstand nicht mehr zum Rücktritt auf, sondern geben uns nur damit zufrieden, ihre Stellung zu verdeutlichen.

Akademie für Wissenschaft und Aufklärung