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Ein Interview mit einem Fabrikarbeiter
Über ein Leben, fünf Schichten und den großen Verrat

Dies ist ein Abriss der Reportage mit Ali Yıldız, über sein Leben als Industriearbeiter, dass er seit mehr als 40 Jahren führt. Auslöser für das Gespräch mit dem Redakteur unserer Zeitschrift war, dass Yıldız sich weigerte, für den Erste-Mai-Soli-Button der DGB zu spenden.

BE-Almanya: Du spendest nicht für die DGB. Bist Du gegen Gewerkschaften?

Ali Yıldız: Ich bin ein Arbeiter und bin der festen Meinung, dass alle ArbeiterInnen prinzipiell am Gewerkschaftskampf teilnehmen sollten. Deshalb bin ich seit vierzig Jahren Mitglied in der Gewerkschaft. Abgesehen davon, dass ich einen regelmäßigen Mitgliedsbeitrag gezahlt habe, nahm ich jahrelang aktiv Teil an der Gewerkschaftsarbeit, wurde Vertrauensmann und vier Jahre lang arbeitete ich als Mitglied im Betriebsrat. Bis zum großen Verrat…

BE-Almanya: Große Verrat?

Ali Yıldız: Ich meine den Verrat, der mit Gorbatschow einen Höhepunkt erreichte. Das endete mit dem Untergang der Sowjet Union und der DDR, sowie des sozialistischen Systems.

BE-Almanya: Was hat das mit der DGB zu tun?

Ali Yıldız: Das ist alles eng mit einander verbunden. Kurz vor dem Mauerfall begannen die Kapitalisten, den Sozialstaat, die Rolle des Staates und auch Errungenschaften der Arbeiter zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen. Und damit brachten sie auch ihre Ersatzwaffe an die Regierung.

BE-Almanya: Ersatzwaffe?

Ali Yıldız: Das Kapital hat viele unterschiedliche Gesichter in der Politik. Das Spektrum reicht von der Mitte bis zu den Faschisten. Guck! Und jetzt tritt die AfD auf die Bühne. Alles was auf der linken Seite ist, die Sozialdemokraten, die Grünen und auch die Linke -kurz gesagt- sind alle systemtreuen Parteien. Damals wurde die SPD gemeinsam mit den Grünen an Spitze befördert. Sie übernahmen die Aufgabe, das zu realisieren, was das Kapital benötigte. Hätte die Kohl-Regierung versucht, das zu machen, was die damalige Rot-Grün-Koalition tat, wären Millionen auf die Straße gegangen. Es war ein aggressiver Angriff auf die Werktätigen, also die Arbeiterklasse.

Yıldız meint, die Existenz des sozialistischen Systems, vor allem der DDR wären ein Handikap für das kapitalistische System in der BRD gewesen. Als es diese dann nicht mehr gab, fingen die Einheitsgewerkschaften an, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Anders als zuvor, hatten sie nun keine Scheu mehr davor, die Kollaboration mit der kapitalistischen Klasse schleunigst auszubauen. 

Yıldız erzählte, dass er 18 Jahre alt war, als er anfing in der Fabrik zu arbeiten. Dass er sein ganzes Leben als Fabrikarbeiter und Gewerkschaftsmitglied verbracht und vieles erlebt, beobachtet und bezeugt hätte. „Vieles davon konnten wir nicht sofort merken“ sagte er, „erst später wurde uns bewusst, was uns angetan wurde.“ Und er erzählte weiter:

„Als ich anfing, arbeiteten wir zu viert an kleinen Maschinen und wir wurden belohnt, jedes Mal, wenn wir es schafften, täglich durchschnittlich 120 Pakete Ware zu produzieren. Heute muss ein Arbeiter gleichzeitig an vier Maschinen arbeiten und man zieht uns zur Rechenschaft, wenn der Durchschnitt bei 1200 stockt, warum wir denn nicht 1300 Pakete produzieren konnten. Und wir müssen die Maschinen auch selbst reparieren.“

Er beklagte sich, weil er mit seinen „62 Lebensjahren auf dem Buckel“ fünf Schichten bewältigen müsste – in vier Schichten arbeiten und eine Bereitschaftsschicht.

BE-Almanya: Gibt es denn keine Gewerkschaft, keinen Betriebsrat? Mischen sie sich denn nicht ein, bei eindeutiger Verschlechterung der Arbeitsbedingungen?

Ali Yıldız: Mit der Schröder-Regierung wurde alles verdorben. Die Gewerkschaften, deren Nabelschnur an die SPD gebunden war, diktierten ihre Politik an uns Arbeiter weiter. Sie zerschlugen damit unseren Gewerkschaftskampf. Die sogenannten Betriebsräte, wurden in Mitglieder des Managements umgewandelt. Sie haben mit der Produktion nicht das Geringste zu tun. Sie nehmen teil an den Sitzungen des Managements, sorgen für die Interesen des Arbeitgebers und sie werden für jede Sitzung auch noch zusätzlich bezahlt.

Lass mich ein Bespiel geben: Früher hatten wir eine Mittagspause. Der Arbeitgeber wollte das aufheben und uns durchgehend arbeiten lassen. Wir waren damit nicht einverstanden, obwohl man uns dafür bezahlen wollte. Später wurde unsere Mittagspause mit dem Einverständnis des Betriebsrats gestrichen – sogar ohne Gegenzahlung. Jetzt haben wir keine Mittagspause. Während der Produktion an der Maschine ist Essen verboten. Das bedeutet: 8 Stunden lang mit leerem Magen malochen.

Kannst du dir vorstellen, dass seit 38 Jahren gar kein Widerstand, keine Streiks stattgefunden haben, obwohl von vielen Arbeitsrechten abgesehen wurde, die Ausbeutung immens gestiegen ist und unsere reellen Löhne gesunken sind!

BE-Almanya: Kann man nichts dagegen tun? Bei den Betriebsratswahlen zum Beispiel?

Ali Yıldız: Du musst die Sache so sehen: Das ist eine Gruppe von Menschen, die in einem festen Verbund zueinanderstehen – diese sind die Besitzer des Unternehmens, die Manager, die Leitung der Gewerkschaft und die SPD. Die scheuen sich auch nicht vor manipulativen Eingriffen auf die Stimmen während der Wahlen. Ich war vier Jahre im Betriebsrat. Sie haben mit allen Mitteln versucht mich zu unterdrücken. Sie versuchten die Arbeiter aus meinem Umfeld gegen mich aufzuhetzen. Sie beschuldigten mich wegen ausfallender Maschinen. Ich war gezwungen, mich gegen tägliche Angriffe und Provokationen zu verteidigen.

BE-Almanya: Kommen denn keine Reaktion wegen der Verschlechterung des Arbeitsklimas, der steigenden Ausbeutung und dem Druck unter den Arbeitern auf?

Ali Yıldız: Es gibt einen internationalen Aspekt. Sie haben ein kleines Buch in ihren Händen, das von der Internationalen Arbeitgeberföderation herausgegeben wurde: „Die Beschäftigungspolitik und Methoden“. Alles was sie gegen uns tun, um den Druck zu erhöhen, entnehmen sie diesem Ratgeber, der auch psychologische Methoden aufgreift.

Zum Beispiel wurde die Produktion nach dem so genannten „dynamischen Produktionsverfahren“ reorganisiert. Sie teilten die Arbeiter in kleine Gruppen auf und suchten jeweils einen Arbeiter aus jeder Gruppe aus. Sie nannten ihn „Topper“ und sprachen diesem eine gefühlte höhere Stellung in der Hierarchie zu. Außerdem zahlen sie ihm 20 Cents mehr pro Stunde. Und somit versklaven sie ihn: Er soll ununterbrochene Bereitschaft zeigen. Er soll eine halbe Stunde früher kommen und einen Bericht dazu schreiben, welcher Arbeiter nicht effektiv genug arbeitet, warum die Produktionszahlen fallen, welche Maschinen nicht hundertprozentig funktionsfähig sind usw. Dieser Topper muss auch die kleinen Reparaturen an den Maschinen durchführen, aber während der Reparatur darf er die Produktion nicht unterbrechen.

  Ja, und aus jeder Gruppe wählen sie einen Zweiten. Ihn nennen sie „TK“ (Team Koordinator). Dieser soll die Produktion koordinieren und die Wünsche des Managements in der Gruppe durchsetzen. Sie wissen natürlich ganz genau, wen sie dafür nehmen müssen. Meine Position war von vorherein klar und deutlich: „Ich werde nicht zum Handlanger von diesen Leuten“ sagte ich. Kurz danach nahmen sie Rache. Als ich nach einem Schlaganfall eine Weile nicht arbeiten konnte, haben sie direkt meine Lohnklasse abgestuft.

Weitere Tricks sind das dauerhafte Rotationsprinzip in der Schichteinteilung und die Gleitzeit. Dadurch arbeitet man immer nur kurze Zeit in denselben Schichten und kann nicht gemeinsam anfangen und gemeinsam Feierabend machen. Auf diese Weise wird der Kontakt zwischen den Kollegen verhindert, um jede Form der Absprache und Organisierung des Widerstands zu unterbinden.

Die Arbeitsgesetze wurden längst geändert. Der Kündigungsschutz wurde zerfetzt. Die Beschäftigung von Leiharbeitern wurde erleichtert. Überall entstehen Vertragsunternehmen. In der Fabrik gibt es eine ständige Fluktuation. Die Vertragslaufzeit der Arbeiter ist maximum zwei Jahre. Dann müssen sie gehen. Nach einer Pause kommen sie zurück, fangen von vorne an. Keine Lohnerhöhung, kein gar nichts…

Du hast aber auch nach dem Betriebsrat gefragt. „`Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten` wird großgeschrieben“ sagen sie. Aber Beispielsweise sind die Staubwolken, die während der Maschinenreinigung entstehen, ein großes Problem. Wir schlucken und atmen eine Menge Staub ein, während die Nachbarmaschine gereinigt wird. Das aber wird wiederum durch eine Fremdfirma gemacht. Die Arbeiter dieser Firma führen die Reinigung in spezieller Schutzkleidung und mit Masken durch. Wir dagegen haben gar nichts. Ich ging zum Betriebsrat und legte eine Beschwerde ein. „Geh und fotografiere den Staub“ sagten sie mir. Ich fragte, was denn ihre Funktion sei. Aber wenn sie keine Antworten mehr haben, werden sie noch unverschämter. „Sei dankbar, dass du hier arbeiten darfst. Was würdest du machen, wenn du arbeitslos wärst?“ fragten sie mich.

Die Kollegen werden selbstverständlich ängstlich, wenn sie solche Worte hören. Sie lassen den Kopf hängen und arbeiten weiter.

Und die Blödel in der Türkei glauben, dass es hier einen Sozialstaat gäbe, dass Deutschland ein Paradies der Arbeiter sei. Sie haben keine Ahnung, dass die Last des großen Verrats auch auf unseren Schultern liegt.

BE-Almanya: Du wirst also am nächsten 1. Mai keinen DGB-Button tragen?!

Ali Yıldız: Ich habe viele Buttons die ich gerne trage: der TKP-Button, DKP-Button… Das Problem liegt aber nicht an den Buttons. Die DGB und die Einheitsgewerkschaften verhalten sich genauso, wie in den Betrieben. Am 1. Mai richten sie Ihre Bierzelte und Sauftische. Weder ein Slogan, noch eine Aufforderung, keine rote Fahne, kein Transparent… als ob der 1. Mai nicht der internationale Kampf- und Solidaritätstag, sondern der Sauftreff der Arbeiterklasse wäre.

Vor drei Jahren trafen sich die DKP, TKP und einige linke Organisationen, um solch einer 1.Mai-Veranstaltung ein Ende zu setzen. Wir schlugen vor, eine Demonstration und Kundgebung zu realisieren. Es ist uns nicht gelungen, die DGB von dem Saufplatz in Mainz, weg zu holen. Die DGB-Führung tat alles, um unser Vorhaben verhindern zu können. Sie änderten sogar die Planung des Tages, damit die Gewerkschaftsanhänger an unserer Kundgebung nicht teilnehmen konnten.

Nächstes Jahr werden wir zum vierten Mal mit unseren roten Fahnen, Transparenten und Slogans den 1.-Mai-Platz der DGB betreten.

BE-Almanya: Wir wünschen Dir viel Erfolg in deinem Kampf.

(*) Aus der Zeitschrift „Boyun Eğme-Almanya“, Ausgabe: April 2018, S. 12-15