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Was tun mit diesem Volk?

Kemal Okuyan

Seit den ersten Jahren der AKP-Regierung währt eine Debatte übers Volk. Als ob das, was dem Volk seither widerfuhr, nicht genug wäre…

Ich werde hier nicht auf verschiedene Bedeutungen eingehen, die dem Begriff „Volk“ zugeschrieben werden. Der Marxismus besagt dies, die bürgerliche Soziologie meint jenes… Das ist unnötig. Fahren wir mit der allgemeinen Bedeutung fort. Wer will, kann Menschen sagen, oder Nation, Gesellschaft oder auch Bürger. Wichtig bei dieser zufälligen Verwendung des Begriffs ist, dass damit eine Gesellschaftsschicht gemeint ist, die keine wirtschaftliche oder politische Gewichtung und auch keine Verantwortung in dieser Hinsicht besitzt.

Worüber wird debattiert?
Lassen sie uns einmal zurückgehen. Die AKP reduzierte die Definition von Volk/Nation zunächst einmal auf ihre Gefolgschaft und erklärte alle anderen zur „Elite“. Die Mehrheit derer, die die AKP unterstützten, waren arme Menschen, das ist richtig, jedoch traf dies auch auf die anderen Parteien zu, weil die Mehrheit der Population in der Türkei aus Werktätigen und Armen besteht. Dann wurden statistische Wahrheiten auf den Markt gebracht, die besagten, die Anhänger der AKP seien besonders bildungsfern, was ein Alibi dafür lieferte, alle anderen als „Elite“ abzustempeln.

In einem Land, in dem jährlich fast eine Million Absolventen die Universitäten verlassen, machte die Regierung das Hochschul-Diplom zum Nachweis des Elite-Seins. Und ein Teil der neun-mal-klugen Oppositionellen machte sich dies zu Eigen. Dann hieß es „die AKP ist volksnah und wir nicht“. Damit glaubten sie es als Tugend, sich gegen Aufklärung, die Republik, Wissenschaft und den Laizismus zu stellen.

Die Verwirrung war nun eingetreten.
Man ahnte es nicht. Die Ungleichheit im Land griff tiefer um sich. Je mehr das Bildungssystem sich dem Markt unterworfen wurde und verkrüppelte, desto mehr wurde eine auf Wissenschaft bauende gute Bildung zu einem Privileg. Auf der anderen Seite strömten aus den Hochschulen, die in jeder Stadt gar Stadtteil aus dem Boden gestampft wurden, „gebildete“ Arbeitskräfte auf den Markt. Gleich wie unqualifiziert die Bildungseinrichtungen auch sind, das Bild der Gesellschaft und ganz spezifisch der Arbeiterklasse veränderte sich rasant. Die städtische Bevölkerung nahm zu, und unter den Werktätigen in den Städten traten gravierende strukturelle Veränderungen auf.

Unvermeidlich führten diese Veränderungen zu Spannungen mit dem Türkei-Entwurf der AKP. Die AKP wollte gewisse historische Errungenschaften der Türkei rückgängig machen und der Gesellschaft ein Konzept aufdrängen, dass in eine Vergangenheit zurückblicken sollte. Die Zahl derer, die dies nicht akzeptierten, war in den Großstädten immer hoch und stieg im Laufe der Zeit weiter an. Es führte dazu, dass die AKP in fast allen großen Städten lokale Regierungen verlor.

Dieses Bild sollte  richtig interpretiert werden.
Der durch die Differenzierung von „sorgenfreie Laizisten vs. arme Fundamentalisten“ entstandene Nonsens und die verbreitete Akzeptanz dazu, ist eher ein Einfallsreichtum der „linken“ Liberalen als der AKP. Dabei sind in der Türkei, sowohl in laizistisch sensibilisierten Kreisen als auch in Kreisen mit religiös-determinierten Präferenzen, die „herrschenden“ die Reichen. Sie sind wenige, aber sie dominieren und ihr Wort hat eine Gewichtung. Ich verabscheue das Wort Elite, aber wenn es unbedingt so genannt werden soll, kann man sagen, dass es die „Eliten“ auf beiden Seiten gibt. Ich möchte betonen, dass unter den aktuellen Umständen des Kapitalismus in der Türkei, die These, dass gebildete und laizistisch sensibilisierte Kreise der Gesellschaft „reicher“ und privilegierter als andere seien, schlicht und einfach Schwachsinn ist. Als eine universelle Tatsache bringen die Proletarisierung, dazu höhere Organisiertheit und Beschäftigung in technologisierten Bereichen, ebenso wie Bildung, die Menschen dazu, dass sie sich zum wissenschaftlichen und aufklärerischen Denken öffnen.

Ich spreche von keiner Regel, sondern einer Tendenz.
Andererseits hebt das gegenwärtige ungerechte System manche Eigenschaften wie Selbstsucht, Mystik, Fatalismus, Konsumismus und Individualismus hervor, die wir als eher übel bezeichnen können. Dann kommt das Nachlassen der Bildungsqualität gepaart mit der Verdummung durch Medien und die korrodierende Wirkung der Populärkultur auch noch dazu. Es ist also kein Wunder, dass die Rede von „geschulten Unwissenden“ zum Aufhänger wird.

Warum sind all diese Punkte so wichtig?
Es ist wichtig, weil ein „Volk“, im Sinne der hier dargestellten Bedeutung weder gut noch schlecht sein kann. Die kulturelle Struktur der Gesellschaft in einem Land ist zweifellos relevant, aber am Ende wird alles von der sozioökonomischen Realität eingeholt. Es gibt kein einziges kapitalistisches Land auf der Welt, das sich in den letzten 40 Jahren in Hinblick auf das Wertesystem nicht verschlechtert hat. Wir brauchen an dieser Stelle aber nicht darauf eingehen, welche Werte gute und welche schlechte sind. Auch wenn Ungerechtigkeit und Ungleichheit in den Himmel stinken, wagt niemand Selbstsucht und Individualismus als Tugend zu preisen. Jedoch wird deutlich, dass die Menschheit sich rückwärts bewegt.

Denn sie ist weniger organisiert. Obwohl der Kampf für Rechte auf gewerkschaftlicher und politischer Ebene und auch der Kampf für eine soziale Befreiung dazu befähigt gemeinsamen Interessen zu folgen.

Denn sogar um den Schlaf hat die Kapitalklasse es beraubt. Die Arbeitszeiten wurden wieder verlängert, und in der nach Anfahrtszeiten und anderen das Leben erschwerenden Umständen übrigbleibenden Zeit, wird sie unter dem Motto „Unterhaltung“ einer aggressiven Verdummung ausgesetzt.

Es ist eindeutig, dass eine Gesellschaft, die bei der Arbeit bis zu den Eingeweiden ausgebeutet, von den Managern gemobbt, den Nachhauseweg wie in Konservendosen zerquetschte Fische überstanden und endlich zu Hause angekommen, über den Fernseher einer Gehirnwäsche durch Lügen, Heuchelei, Gewalt, Autoritarismus und einen bösartigen männlichen Diskurs unterzogen wird, und neuerdings über soziale Medien einer virtuellen Vergewaltigung ausgesetzt ist, nicht wie eine Engel produzierende Fabrik funktionieren kann.

Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung kommt hier ins Spielı
Daher ist der Kampf gegen die Quelle des Bösen auch eine Chance für unser Volk, eine Chance zur Genesung. Je stärker dieser Kampf ist, desto besser. Andererseits jedoch ist es unmöglich, dass dieser Kampf eine Veränderung herzaubern kann, die sich durch die gesamte Gesellschaft zieht.  Die eigentliche Veränderung wird eintreten, wenn dieser Kampf das System verändert.

Wenn die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Gesellschaft beseitigt wird, kann mit der Zeit auch Selbstsucht und Individualismus eingeschränkt und unbrauchbar gemacht werden. Wenn jedem die gleichen Bildungschancen geboten werden, wenn Ressourcen für Wissenschaft, Kunst und Breitensport zugestellt und diese Bereiche allen gleich zur Verfügung gestellt werden, kann die Gesellschaft anfangen sich zu erholen, können die guten Seiten die schlechten Seiten übertreffen.

Was zeigt uns das?
All dies zeigt, wie dumm es wäre, sich einer von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft, einem solchen Volk schmeichlerisch anzunähern.

All dies zeigt auch, wie widerlich die feindselige Haltung gegenüber einer, der Ungleichheit und Ungerechtigkeit ausgesetzter Gesellschaft, einem solchen Volk wäre.

Warum haben wir das alles geschrieben?

Wir haben das Aufgrund der Bilder und der vielen dazu entstandenen Kommentare, die nach der Ankündigung der Ausgangssperre am vergangenen Freitagabend (10.04.2020) zum Ausdruck kamen, geschrieben.

Bei Menschen die sich nicht einreihen können,  die in der Warteschlange um den Platz wegen einander angreifen und die eigene Gesundheit sowie die der Anderen gefährden, ein zweitägiges Ausgangsverbot übertreiben und sich in Hamsterkäufen verlieren, nicht nach „Tugend“ suchen. Selbstverständlich hat nicht jeder, der auf die Straße ging, so gehandelt, aber dieses Bild kam hervor.

Allerdings ist nicht das unser Thema.

Das Thema ist die Entscheidung über die öffentliche Gesundheit, dass die Menschen zu einem solchen Fehlverhalten verleiteten. Hier ist das Subjekt nicht das Volk, denn das Volk ist nicht der Entscheidungsträger. Dem wird aber die Schuld zugewiesen. Durch die Art und Weise der Entscheidung und wie sie deklariert und umgesetzt wurde, konnte die Öffentlichkeit fast nur in Panik geraten. Punkt. Ende der Aussage! Ganz genau dies ist zu betonen.

Das Thema ist die Haltung der politischen Macht, welche Ungerechtigkeiten und die Verletzung des Rechts legitimierten. Vergessen wir nicht, dass diese Haltung seit Jahren an der Macht ist, und wenn es als Erfolg gilt, an der Macht zu sein, ist sie „erfolgreich“. Dieser „Erfolg“ ist natürlich ein schlechtes Beispiel für die Gesellschaft.

Das Thema ist, dass die Menschen in eine Verzweiflung getrieben werden und das Gefühl von Unsicherheit hervorgeht. Denn es gibt nichts mehr, dem zu vertrauen es möglich wäre.

Dies ist also die Situation der Menschen, die von Engin Ardıç und Mehmet Barlas beleidigt wurden.[1]

Ich kann es wie folgt erklären: Hätte ich 30 Tage lang jeden Tag nur die Schriften von diesem Typen namens Engin Ardıç gelesen, wäre ich zweifellos auch so ein aggressiver Typ geworden, würde auf der Straße Katzen treten und nur darauf aus sein, jemandem eine Kopfnuss zu verpassen.

Ihr würdet mich für ein solches Verhalten bestimmt nicht loben. Aber ihr würdet gewiss, denjenigen an den Kragen gehen, die mich in einen solchen Zustand versetzt haben, oder?

Was sagten wir, steht auf, beugt euch nicht, rechnet mit diesem ungerechten System ab, das uns alle korrodiert.

KEMAL OKUYAN
Sekretär der ZK der TKP
13.04.2020

[1] Kolumnisten der regierungsnahen Tageszeitung „Sabah“. Sie beschimpften in ihren Kolumnen, die Menschenmengen, die nach Bekanntgabe der Ausgangssperren die Geschäfte stürmten.