Artikel über die DDR

Unser kollektives Gedächtnis als Ort
der ideologischen Abrechnung

Boran Behiç

Obgleich vom Menschen aufgesetzte Grenzen sich aus der Entstehung von Eigentumsverhältnissen herausstellen, werden Mauern nicht immer nur zum Schutz von Eigentum errichtet. Im Beispiel von Berlin war es eine Schutzmauer zur Sicherung der Macht der Arbeiterklasse vor sozialem Verfall und imperialistischer Aggression, die durch Eigentumsverhältnisse hervorgerufen werden. Die Arbeiterklasse schützte ihre Macht vor der wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und politischen Bedrohung, der sie ausgesetzt war.

Die Mauer, die zugleich die imperialistische Besatzungszone umgab, schützte nicht nur die Macht der Arbeiterklasse vor imperialistischer Aggression, sondern forderte den Kapitalismus auch auf, sich umzustellen. Von der Kaufkraft bis zu den Arbeitszeiten, von der gesundheitlichen Versorgung bis zur Bildung, wurde die Mauer in allen Lebensbereichen der Arbeiterklasse zum Schwert der Gerechtigkeit über die Kapitalmacht, indem sie zur Verwirklichung des Realsozialismus beitrug und eine Quelle der Hoffnung und Inspiration für die Völker der Welt schaffte.

Andererseits wirkt die Mauer nur dann als Schutz, wenn das Innere ständig nach außen wachsam gehalten und die Tatsache der Bedrohung ständig in Erinnerung gerufen wird. Nun gibt es leider einen schwachen Moment des Menschen, der sich aus seiner Natur ergibt. Er versucht die Bedrohung so schnell wie möglich von sich zu drängen, für sich eine sichere Umgebung zu schaffen und nach Normalität zu ringen, um überleben zu können. Wir Menschen vergessen schnell das Böse, konzentrieren uns direkt auf das Gute.

Um diese Funktion der Mauer aufrechterhalten zu können, ist es notwendig, solange die Bedrohung durch das Bestehen dieser Mauer fortwährt, die Erinnerungen zu Hunger, Armut, Krieg, Ausbeutung und deren Einfluss auf das Leben aufrechtzuerhalten, aufzufrischen. Vor allem aber auch, daran zu erinnern, dass die Gefahr, welcher die wahre Freiheit ausgesetzt ist und für dessen Errungenschaft ein hoher Preis gezahlt wurde, Tag und Nacht hinter der Mauer lauert, um diese Freiheit bei nächster Gelegenheit wieder untergraben zu können. Von heute betrachtet, hat die Mauer uns viele Lektionen erteilt. Der Krieg besteht fort in einer Welt ohne Macht der Arbeiterklasse, die Ausbeutung wird immer gravierender, imperialistische Rivalitäten tragen dazu bei, dass sich die Völker gegenseitig vernichten und Millionen von Menschen kämpfen mit dem Hunger. Während die Kapitalisten einerseits den Preis jeder Krise den Werktätigen aufbürden, bedienen sie sich der Religion, Sprache, Rasse und jeglichem, was sie instrumentalisieren können, um eine Organisierung der Arbeiterklasse zu verhindern. Kapitalismus ist Barbarei, sagen wir. Wild durch die Gegend spuckend drohen uns die Vertreter dieser Ordnung und nicht einmal die Mühe machen sie sich, um ihre Barbarei zu verschleiern.

Obwohl die Niederlage der Arbeiterklasse in Europa bereits 30 Jahre zurückliegt, hat sich der Zorn der Kapitalklasse nicht gelegt. Sie nutzen jede Gelegenheit, um die Arbeiterklasse durch ihre Vergangenheit herabzuwürdigen und in die Ecke zu drängen, um sie hier regungslos zu lassen. Der Kapitalismus zwängt die durch die Berliner Mauer symbolisierte Macht der Arbeiterklasse in das Sinnbild „Mauer- Eiserner VorhangRegime der Unterdrückung“, damit dieser Raum unseres kollektiven Gedächtnisses zur Manipulation ausgenutzt werden kann.

UNSER KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS

Jedes Stück einer Stadt birgt den Schweiß, das Blut und die Tränen der Menschheit. Unser kollektives Gedächtnis wächst in jeder Ecke dieser großen Organisation: in Fabriken, Schulen, Büros, Wohnungen und an öffentlichen Plätzen. Städte sind unser kollektives Gedächtnis. Jeder Winkel einer Stadt ist unser Erinnerungsraum. Diese Räume zeigen uns die Bedeutsamkeit der Werte, die uns zu Menschen machen. Sie erinnern an den hohen Preis des Kampfes, um diese Werte. Daher haben diese Erinnerungsräume eine politische Gewichtung. In jedem gesellschaftlichen Aufstand führen uns diese Erinnerungsräume zusammen. Natürlich haben diese Orte eine besondere Bedeutung für die Regierungen. Die Projektion der Machtideologie finden sich in Räumen wieder.

Die Bedeutung des Bastil-Gefängnisses in der Geschichte der Französischen Revolution ist dafür ein gutes Beispiel. Das Bastil-Gefängnis, das zum Symbol des Despotismus der Monarchie wurde, wurde nach der Französischen Revolution vom Volk bis zu den Grundmauern abgerissen und somit wurde die Monarchie in ihre Atome zerlegt, aus der eine neue und freie Welt erschaffen wurde. Napoleon war so angewidert von der revolutionären Symbolik der Ruinen, dass er darauf ein Siegestor errichten wollte und später die kaiserliche Elefantenstatue auf den Platz errichten ließ.

Der Taksim-Platz in der Türkei hatte zum Beispiel eine ähnliche Bedeutung. Der Taksim-Platz und der daran anschließende Gezi-Park, welche mit der Vision der republikanischen Moderne das neue und moderne Stadtverständnis des Henri-Prost-Plans von 1937 widerspiegeln, waren von sehr großer ideologischer Bedeutung. Die ideologischen Berechnungen der säkularen und zeitgenössischen bürgerlichen Revolution haben den osmanischen Palastgarten in einen großen Stadtpark verwandelt und mit dem Taksim-Platz, dem Herzen der Stadt, verbunden. Der Abriss der Artillerie-Kaserne, die den Militarismus der Regierung darstellte, und der Bau des Gezi-Parks, der den Zugang zum größten Park der Stadt ermöglichte, stellten zugleich die revolutionäre Seite der republikanischen Moderne dar. Der Schlossgarten sollte das öffentliche Eigentum der Stadtbürger werden, in dem der Bürger seine städtische Identität erlangt, in die Oper geht und sich hier trifft, um die Revolution zu feiern. Die bürgerliche Revolution hatte über den Raum eindeutig eine ideologische Abrechnung mit dem Palastregime getroffen. Später wurde dieser Platz dann Zeuge derselben „bürgerlich- revolutionären“ Republik, die ihre revolutionäre Identität rasant beiseite schob. In den folgenden Jahren wurde der Taksim-Platz zum Symbol für die Rechte der Arbeiter, den Widerstand, den Hass auf den Kapitalismus und den Staatsterror. Auf dem von Prost in Istanbul geplanten Stadtpark befinden sich heute internationale Hotelmonopole und Einkaufszentren. Auf dem Grundstück des Atatürk Kultur Zentrums (AKM) ragen die Baukräne empor. Dank des Juni-Widerstands steht die Artillerie-Kaserne derzeit noch auf der Warteliste, aber die AKP setzte ihre ideologische Abrechnung über Räume der Stadt fort, indem sie auf dem Taksim-Platz eine Moschee errichten ließen.

DER SOZIALISMUS WAR IN BERLIN

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Landkarte Europas, die Arbeiterklasse trat gestärkt aus dem Krieg hervor, der Sozialismus kam nach Berlin, als die Rote Armee den Nazifaschismus tief in die Geschichte begraben hatte. 1950 bekundeten die DDR-Bürger den Willen, das Berliner Stadt- schloss abzureisen, mit der Begründung, es sei ein Symbol des preußischen Militarismus. Anstelle des königlichen Palasts wurde hier der republikanische Palast errichtet, der die Macht der Arbeiterklasse repräsentierte. Hier sollten die Entscheidungen des Volksparlaments auf transparente Weise getroffen werden, das Gebäude sollte einschließlich der Sitzungen, für alle zugänglich sein und alle wichtigen kulturellen, akademischen und politischen Veranstaltungen sollten hier stattfinden. Unterhaltungsmöglichkeiten, Konzertsäle, Ateliers und Restaurants waren für die Jugend im Parlamentskomplex geplant. Es wurde eine architektonische Sprache verwendet, die Menschen nicht demütigte und unterdrückte so wie der Palast, sondern transparent und einladend war, aber auch die Macht und Entschlossenheit der Volksmacht demonstrierte.

Die Geschichte, die 1789 begann, wurde 1989 unterbrochen. Die Arbeiterklasse wurde in Europa besiegt und infolge der politischen und kulturellen Hegemonie des Kapitals, wurde die Zerstörung der Mauer durch diese Niederlage symbolisiert. Um die Absolutheit dieser ideologischen Niederlage sicherzustellen, haben die Kapitalisten das kollektive Gedächtnis der Menschheit angegriffen und tun dies weiterhin. Sie zerstörten den Volkspalast in Berlin und bauten ein Replikat des alten Palastes und verbreiteten Mythen über Freiheitskämpfer durch Wandmalereien.

In jedem Medienkanal, in jedem Kunstzweig, bei jeder Gelegenheit errichteten sie anhand von Bau und Zerstörung der Mauer, unsichtbare Mauern zwischen der Arbeiterklasse und ihrer wahren Freiheit. Sie bauten Einkaufszentren auf unser kollektives Gedächtnis und Museen, in denen der Nazifaschismus mit dem Sozialismus gleichgestellt wird. Sie sagen, Wir haben die Mauer zerstört, und geben den Menschen das zurück, was ihnen gehört und privatisierten alle DDR Institutionen gegen erschwingliche Preise. Fabriken verwandelten sich in Einkaufszentren, öffentliche Gebäude in Privatbanken und Häuser wurden von Immobilienmonopolen geplündert. Jeder Schriftsteller, jeder Politiker und jeder Künstler, der bereit ist, an der vordersten Front in diesem ideologischen Angriff zu kämpfen, wird großzügig bezahlt, mit Preisen ausgezeichnet und alle Tore dieser Ordnung öffnen sich für sie.

Sie vernichten systematisch Bücher, als hätten sie geschworen, alle in der DDR produzierten Informationen zu löschen. Die Fabrik, in der wir arbeiten; das Haus, in dem wir leben; das Buch, das wir produzieren; der Platz, auf dem wir uns versammeln… Hinter diesem Angriff auf unser kollektives Gedächtnis steht die endlose Wut der Kapitalmacht. Die Arbeiterklasse erlitt im ideologischen Kampf vor allem deshalb eine Niederlage, weil sie die Bedrohung hinter der Mauer unterschätzte und nicht genau begriff, dass ein friedliches Zusammenleben eine vorübergehende Anomalie des Kapitalismus war.

Trotz all dieser Bemühungen des Kapitals fahren wir fort, die Geschichte und die Welt mit marxistischer Methode zu interpretieren, unsere feinsten Fähigkeiten mit Lenins Idee einer Pionierpartei weiterzuentwickeln, an Streikaktionen mit der Entschlossenheit von Gorkis Pavel teilzunehmen, uns mit Brechts Gedichten zu begeistern, mit dem Chor der Roten Armee zu entflammen und weiterhin Freiheitslieder auf den Plätzen zu singen. Sie können Carlos Puebla nicht aus unserem Gedächtnis löschen. Nazım’s Heimatliebe, die in unsere Gene übertragen ist, lässt sich nicht mehr aufheben. Wir werden nicht vergessen, dass gerade der Kapitalismus selbst den Faschismus hervorgebracht hat. Und dass es das kollektive Werk der Arbeiterklasse war, die sie zerstört hat… Solange unsere Hände, die diese Räume erschaffen haben, weiterleben, solange sich die Räder der Ordnung mit diesen Händen drehen, solange werden die von diesen Händen geschaffenen Räume und das kollektive Gedächtnis dieser Räume weiterwachsen.

Wir werden die Gewinner dieses ideologischen Kampfes sein, wir werden die unsichtbaren Mauern des Kapitalismus eine nach der anderen zerstören. ■

DIE MAUER AN DER HEISSESTEN FRONT DES KALTEN KRIEGES

Als das Nazi-Deutschland, das von den imperialistischen Ländern der damaligen Zeit unter Vertrag genommen wurde, um die Macht der Arbeiter- klasse vollständig zu beseitigen, natürlicherweise seine zugewiesene Rolle verlassen hatte und noch wichtiger, nicht fähig war, seine zugewiesene Rolle zu erfüllen, hatte das Bündnis zwischen der Sowjetunion und den imperialistischen Ländern, das nur geschlossen wurde, um eine Ausweitung der Grenzen einer Arbeiterregierung zu verhindern, Raum für einen echten Klassenkampf geschaffen Die Heiße Front dieser Abrechnung, der sogenannte Kalte Krieg, waren die Straßen Berlins. Die Stadtteile von Berlin wandten sich bald zwei verschiedenen Möglichkeiten zu, die nicht koexistieren konnten. Alle zivilgesellschaftlichen Aktionen und alle demokratischen Beteiligungsmechanismen wurden in den von England, den USA und Frankreich kontrollierten Gebieten verboten, während alle Gewerkschaftsaktionen und gemäß dem Potsdamer Abkommen das Recht auf Selbstorganisation unter der Kontrolle der Sowjetunion freigegeben wurden. In allen Gebieten, die unter Aufsicht der Sowjetunion standen, wurden alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen Organisationen der nationalsozialistischen Überreste abgeschafft und alle Betriebe einzeln enteignet, während in den imperialistisch besetzten Gebieten gegenüber Betrieben der nationalsozialistischen Überreste und dem Kapital, das Verbindungen zur NSDAP hatte, ein Auge zugedrückt wurde und anstatt gegen die Trusts zu gehen, gegen das Volk gegangen wurde. Kurze Zeit später wandten sich die drei Besatzungsländer, die den imperialistischen Block bildeten, dem Wiederaufbau des Kapitalismus in ihren jeweiligen Regionen zu, und die Straßen Berlins wurden zum Zentrum von Verschwörungen, allerlei Agententätigkeiten und Provokationen gegen die Errungenschaften der Arbeiterklasse. Nach der Gründung der NATO und der Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel einer 500.000 Mann starken Armee zu gründen, stand die Welt an der Schwelle zum dritten Weltkrieg. So war die Deutsche Demokratische Republik gezwungen, zum Schutz ihrer Grenzen und der Macht der Arbeiterklasse, den Westen von Berlin mit einer Mauer zu umgeben.