Libyen verstehen
In den letzten Tagen haben alle Präsidenten in Telefonaten Libyen besprochen.
Erdoğan und Trump, Trump und Sisi, Putin und Erdoğan, Sisi und Putin…
Soweit es den Medien zu entnehmen ist, wollen alle das der Frieden und die Einheit Libyens geschützt wird.
Andererseits aber werden Waffen und Soldaten an den Grenzen Libyens positioniert.
Es ist nicht einfach diese komplexe Gleichung zu verstehen. Wie bei jedem komplizierten Problem muss man in die Vergangenheit sehen, um es verstehen zu können.
Aber gut, dass wir nicht bis nach Karthago und ins Römische Reich zurück gehen müssen. Libyen wurde im 16. Jahrhundert durch das Osmanische Reich erobert und es unterlag jahrelang der feudalen Herrschaft der Osmanen, bis es 1911 dem Angriff der italienischen Imperialisten ausgesetzt war. So wurde es zu einer Kolonie Italiens. Der heroische Widerstand des libyschen Volkes gegen die Italiener blieb ergebnislos.
Nach der Niederlage Italiens im Ersten Weltkrieg geriet Libyen unter die Hegemonie Englands und Frankreichs. Allerdings waren diese imperialistischen Mächte nicht mehr stark genug, um den Kolonialismus in der ursprünglichen Form fortzuführen. So bevorzugten sie es, durch den Einsatz auserwählter Figuren aus dem Land, ihre Hegemonie fortzusetzen.
Libyen verwandelte sich 1951 als Königreich in ein “unabhängiges” Land. Aber das Erdöl wurde weiterhin durch ausländische Firmen gefördert und vertrieben. Dieses arme Land Afrikas, besaß die reichsten Erdölreserven des Kontinents.
Jedoch hatte das Königreich keinen langen Atem. Denn in Nordafrika und dem Nahen Osten wurden die buntesten Seiten bürgerlicher Revolutionen aufgeschlagen. Während der Existenz der Sowjetunion haben diese Länder mit den Abhängigkeiten des Feudalismus und des Imperialismus und gründeten ihre Republiken: Ägypten, Syrien, Libanon, Irak, Algerien…
In der Benennung ihrer Republiken war sogar das Wort „Sozialismus“ genannt. Obwohl diese Revolutionen ihren Völkern unvorhergesehene Fortschritte brachten, waren sie nicht sozialistisch. Und gemäß der Natur bürgerlicher Revolutionen konnte dieser Antrieb nur eine begrenzte Fortschrittlichkeit hervorbringen.
Der charismatischste Führer dieser Revolutionen, Nassir erweckte in den arabischen Jugendlichen die Ideen der Revolution. Während der Verstaatlichung des Suezkanals 1956 stattfindenden Demonstrationen in Libyen befand auch Muammar Gaddafi sich unter den Demonstranten. Mit der Revolution unter der Führung der jungen Offiziere wurde die Kollaborateure feudale Macht in Libyen 1969 gestürzt. Die Erdölfelder wurden verstaatlicht und fremde Militärbasen geräumt. 1977 wurde die Sozialistische Arabische Republik Libyens gegründet. Der Staatshaushalt, dessen Einkommen zu 90 % aus Erdöleinnahmen bestand, wurde für sozialstaatliche Maßnahmen eingesetzt.
Libyen unterstützte Aufstände und revolutionäre Bewegungen im Ausland. Jedoch wurde wegen dem Flugzeugabsturz im Lockerbie-Anschlag 1988 im Schottland Libyen beschuldigt und in dieser Zeit, in der die Sowjetunion langsam aus der Bühne verschwand, blieb es allein und wurde isoliert. Wie all die anderen bürgerlichen Revolutionen auch, verstärkten sich mit der Zeit die Tendenzen zur Deformierung. Insbesondere wurden nach der Auflösung der Sowjetunion Tendenzen zum Liberalismus und zur Zusammenarbeit mit imperialistischen Ländern sichtbar.
Die Organisierung der werktätigen Klassen und ihre Forderung um die Macht, wäre die natürliche Entwicklung der Geschichte gewesen.
Doch in der Rückstandsphase nach der Auflösung der Sowjetunion nahmen die Entwicklungen eine andere Richtung ein. Der 2011 angefangene Aufstand der Werktätigen hatte mit den Forderungen des Volkes nichts zu tun. Die USA und der westliche Imperialismus versuchten sich von den nationalen Einheiten, die am Anfang des Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit gewonnen hatten, zu befreien. Genauso wie in Syrien entwickelte sich der Aufstand infolge eins imperialistischen Projekts.
Kurz danach griff die NATO mit der Genehmigung der Vereinten Nationen Libyen ein. Das Land wurde mit den Kampfflugzeugen der
USA, Frankreichs und Englands gnadenlos bombardiert.
Auch der Konvoi Gaddafis wurde bombardiert und er wurde Banden eingefangen und gelyncht, welche durch westlichen Agenten dirigiert wurden.
Fremde Monopole fingen an, all die Erdölquellen zu betreiben. Die gesamte Infrastruktur des Landes ist zusammengefallen und die Städte verwandelten sich in Ruinen.
Nach nun neun Jahre befindet sich Libyen immer noch inmitten eines blutigen Bürgerkriegs.
In diesem Krieg gibt es aus Perspektive der Werktätigen keine vertretbare Position. Denn in Libyen findet ein Verteilungskrieg internationaler Akteure statt, für dessen Gladiatoren das Land als Arena dient.
Mit welchem Zweck unterstütz Frankreich die Kräfte im Osten? Damit der Löwenteil des Erdöls in den Händen des Energiemonopols Total bleibt.
Mit welchem Zweck unterstützt Italien die Kräfte im Westen? Damit das Erdöl im Westen durch das Monopol ENI betrieben und nach Europa abgeführt werden kann.
Was will die EU? Wer gewinnt, ist für sie uninteressant. Hauptsache es fließt billiges Petroleum aus dieser geografisch nah gelegenen Region in die europäischen Unternehmen.
Was will Russland? Für Russland, das selbst Erdöl fördert, hat das libysche Erdöl keine wirkliche Priorität. Aber, es eröffnet für die russischen Unternehmen das Tor nach Afrika. Libyen bedeutet auch eine Militärbasis im Mittelmeer und Russland würde als Hauptwaffenlieferant Afrikas näher an das Kontinent rücken. Aber zugleich mag Russland die gemeinsam mit der Türkei errungene Position schützen, die einer wackeligen Politik innerhalb der NATO folgt.
Mit welchem Zweck unterstützt die Türkei die Kräfte im Westen? Damit sie eine vorteilhafte Position in der Verteilung der Erdgas- und Ölreserven des östlichen Mittelmeerraums abgewinnt und dadurch die Möglichkeiten für den Zugang von Unternehmen in afrikanische Märkte beibehält.
Was will Ägypten? Obwohl sie den arabischen Nationalismus hervorheben, geht es um die Verteidigung der Interessen ägyptischer Monopole.
Was will die USA? Während sie all ihre Kräfte im Pazifik konzentrieren, ist es ihnen egal, wer wen übertrifft. Hauptsache Russland nimmt keine strategisch wichtige Position ein.
In Libyen finden alle Krisen der Welt in beschämender Weise eine Verkörperung.
Es werden zwei Alternativen geboten:
Entweder der Frieden des Imperialismus, was aber bedeutet, dass Libyen nach Kräfteverhältnissen unter Unternehmen aufzuteilen ist. Oder der Krieg des Imperialismus. Und es ist zu beobachten, dass gerade diese Blockbildung den Krieg unmittelbarer und größer werden lässt.
Das mit der Kairoer Deklaration von letzter Woche vorgeschlagene Friedensabkommen bietet nichts anderes als das. Gleichzeitig werden aber Panzerbrigaden an die Grenze von Ägypten und Libyen geschickt. Die Türkei setzt die Bewaffnung West-Libyens fort.
In den nächsten Tagen und Wochen werden wir sehen, welche Alternativen ins Spiel kommen.
Die Reichtümer Libyens werden ungeachtet seines Volkes weiter verteilt.
Und Zwar bis die werktätigen Völker in der ganzen Welt ihre eigene Option dagegenstemmen.
Erhan Nalçacı, soL Gazete, 13.06.2020
(https://sol.org.tr/yazar/libyayi-anlamak-6966)