TKP – Zentral Komitee

Die Behauptung einer „terrorfreien Türkei“ und unser Kampf für eine „ausbeutungsfreie Türkei‘“
Erklärung des Zentralkomitees der TKP zu den Entwicklungen in unserem Land und in der Region in 27 Punkten

Die Behauptung einer „terrorfreien Türkei“ und unser Kampf für eine „ausbeutungsfreie Türkei‘“
Erklärung des Zentralkomitees der TKP zu den Entwicklungen in unserem Land und in der Region in 27 Punkten


1. Der Imperialismus beschränkt sich nicht auf die USA. Er ist auch kein unklar definierter Feind, dem man nach Belieben die Schuld zuschieben kann. Vielmehr ist Imperialismus der Name des Weltsystems, das unter der Vorherrschaft internationaler Monopole steht. In diesem System konkurrieren kapitalistische Länder miteinander, um einen größeren Anteil an den Reichtümern der Welt zu erlangen und um neue Investitions- und Ausbeutungsfelder zu erschließen. Dieser Wettstreit ist gekennzeichnet durch Kriege, Besetzungen, Annexionen, ethnische Konflikte, Putsche, Massenmigration und Massaker, beseitigt jedoch nicht die Konkurrenz zwischen großen Kapitalgruppen innerhalb einzelner Länder. Es ist bekannt, dass es in vielen Ländern verschiedene Kapitalgruppen mit jeweils unterschiedlichen außenpolitischen Präferenzen gibt. In allen kapitalistischen Ländern versuchen die Regierungen, diese Unterschiede in Einklang zu bringen, und streben in der Regel danach, eine „nationale Strategie“ festzulegen, die die Interessen der stärksten Kapitalgruppen besonders berücksichtigt. Da diese nationale Strategie jedoch nur den Interessen einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung entspricht, ist sie weder „national“ noch – wenn man die Begriffe der AKP verwenden möchte – „einheimisch und national“.

2. Es ist ein großer Irrtum, die heute in der Welt tonangebenden Länder in gut oder schlecht, berechtigt oder unberechtigt, gerecht oder ungerecht einzuteilen. Denn das gesellschaftliche System, das in jedem dieser Länder herrscht, basiert auf Unrecht, Ungerechtigkeit und der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung. In diesem Sinne ergänzen sich Innen- und Außenpolitik: Eine Regierung, die in der Innenpolitik falsche Entscheidungen trifft, wird in der Außenpolitik nicht plötzlich richtig handeln. Wir sprechen hier von einer historischen Lüge, die darauf abzielt, die breiten Massen einzulullen. Deshalb betonen wir immer wieder, dass Patriotismus bedeutet, das eigene Land von Übel, Unrecht und Ungerechtigkeit zu befreien – und dass nur mit einer solchen moralischen Haltung der Kampf gegen äußere Feinde und den Imperialismus geführt werden kann.

 

3.Seit einiger Zeit erleben wir eine Zuspitzung des Machtkampfs zwischen einem von den USA angeführten Block und China, das mit seinem rasanten wirtschaftlichen Wachstum die Vorherrschaft der USA bedroht. Der Zusammenhang dieses Machtkampfs mit den aktuellen Entwicklungen an vielen Orten der Welt – auch in unserer Region – muss ernst genommen werden. In jüngster Zeit hat die US-Regierung ihre Anstrengungen verstärkt, Russland von China zu distanzieren, ihre europäischen Verbündeten auf einen Krieg vorzubereiten, Handelsrouten unter ihre Kontrolle zu bringen, das Bündnissystem im Nahen Osten zu erneuern und regionale Produktionszentren zu schaffen, die die wirtschaftliche Überlegenheit Chinas ausgleichen sollen.


4. Die Schwächung des palästinensischen Widerstands durch Israel, welches dabei die offene Unterstützung oder das Wegsehen fast der gesamten Welt ausnutzt, die Schritte zur Einbindung der Länder der Region in die Abraham-Abkommen, welche einer Akzeptanz der expansionistischen Ziele Israels gleichkommen, das Ziel, die Assad-Regierung in Syrien, welche diesem Prozess Widerstand entgegensetzt, zu stürzen und sie durch die dschihadistische HTŞ zu ersetzen, welche ihre Macht den USA und Großbritannien verdankt, sowie der wachsende Druck auf den Iran sind miteinander zusammenhängende Entwicklungen. Sie entsprechen den Interessen der USA und Großbritanniens, die bemüht sind, den Wettbewerb zwischen Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und Israel zu entschärfen und die Kräfteverhältnisse zugunsten einer Schwächung des Irans zu verschieben. In diesem Prozess übernimmt Aserbaidschan eine wichtige Rolle. Das Land ist in Bezug auf bestehende und geplante Energieprojekte in der Region ein bedeutender Akteur und tritt in den letzten Monaten als Vermittler zwischen der Türkei und Israel auf.


5. Im Nahen Osten hat eine Phase begonnen, in der sich Gleichgewichte, Grenzen und Bündnisse verändern werden. Dabei darf man nicht denken, es handle sich lediglich um die „Teile-und-herrsche“-Strategie der Imperialisten. Tatsächlich ist die Aufspaltung von Staaten in kleinere Einheiten kein Ziel, sondern ein Mittel. Der Imperialismus zielt darauf ab, Länder zu zerschlagen, um sie leichter ausbeuten und plündern zu können und um höhere Profite zu erzielen. In diesem Zusammenhang soll die durch jahrelange blutige Kriege zermürbte Region einerseits durch strategisch bedeutsame Handels- und Energierouten und andererseits durch billige, anspruchslose Arbeitskräfte in ein neues Zentrum „wirtschaftlicher Belebung“ verwandelt werden. Die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien und die Aufforderung an Damaskus, sich „gut mit Israel zu stellen“, stehen damit in direktem Zusammenhang.


6. Damit sich ein Gebiet, das sich von Indien über den Nahen Osten bis hin zu afrikanischen Ländern wie Libyen und Sudan erstreckt, zu einem neuen Zentrum „wirtschaftlicher Belebung“ entwickeln kann, ist die Bildung eines starken Bündnisses aus der Türkei, Israel, Saudi-Arabien, Ägypten und Aserbaidschan erforderlich. Ohne eine derart umfassende Initiative erscheint es schwierig, China wirtschaftlich aufzuhalten oder zurückzudrängen. Der „Indien-Nahost-Europa-Korridor“, den der US-Imperialismus vor etwa zwei Jahren als Alternative zu Chinas „Belt and Road“-Initiative ins Gespräch brachte, war ein bedeutender Ausdruck dieser strategischen Suche. Es hat sich gezeigt, dass die Kontrolle über Handels- und Energierouten allein nicht ausreicht, sondern dass zugleich ein alternatives Produktionsgebiet geschaffen werden muss. Dies wurde besonders deutlich mit der Eskalation der Zölle durch die Regierung unter Donald Trump im Rahmen des Handelskriegs mit China. Das Ziel besteht einerseits darin, ein neues „Ausbeutungszentrum“ zu schaffen, um die Abhängigkeit der US- und EU-Märkte von China zu verringern, und andererseits darin, neue Absatzmärkte zu erschließen.

Jedes der Länder im Nahen Osten – einschließlich der ölreichen Staaten – bietet enorme Möglichkeiten für eine schnelle industrielle Entwicklung und damit für die Ausweitung von Ausbeutungsverhältnissen. Länder wie Ägypten, Jordanien, Syrien und der Irak ragen ohne Zweifel durch ihr Potenzial zur Ausbeutung billiger Arbeitskräfte hervor. Gleichzeitig verfügt das türkische Kapital mit seiner vergleichsweise entwickelten Produktionsinfrastruktur und Erfahrung über die Fähigkeit, diese Länder in eine weitergehende Integration einzubinden. Eine solche Arbeitsteilung würde auch beinhalten, dass Israel und Saudi-Arabien eine Rolle in den Bereichen Technologie- und Kapitalexport übernehmen. In den letzten zehn Jahren hat die durch den Syrienkrieg ausgelöste Migration – am stärksten in der Türkei, aber auch in Ägypten und Jordanien – zu einer erhöhten Ausbeutungskapazität geführt. Diese spiegelt sich in den Profiten internationaler Monopole, allen voran des EU-Kapitals, wider. Die Bestrebungen der imperialistischen Akteure beruhen auf der Erkenntnis, welche vielfältigen Möglichkeiten eine so weitreichende und integrierte Ausbeutungsregion bietet.


7. Der jüngste sogenannte „Lösungsprozess“, den die TKP als „Friedensschluss mit dem Kapital“ bezeichnet, steht in genau diesem Zusammenhang. Die AKP-Regierung wurde von den USA und Großbritannien zu diesem Prozess gedrängt. Wie Bahçeli mit seinem Verweis auf eine „äußere Bedrohung“ andeutete und führende PKK-Kader mehrfach betonten – „Wir haben auch andere Optionen“ – hat Israel signalisiert, dass es bereit ist, in Syrien eine größere Rolle zu übernehmen, die Assad-Regierung zu stürzen und Regionen in Syrien unter eigener Kontrolle oder Protektion zu errichten. Die Türkei wurde dazu gedrängt, auf dem Boden als operativer Akteur des Plans zu fungieren, der die Machtübernahme der HTŞ in Syrien ermöglichen soll. Ungeachtet der derzeit laufenden Spannungen und Verhandlungen hat sie die Realität der SDG akzeptiert. Angesichts der wirtschaftlichen Lage und der seit Jahren anhängigen Korruptionsfälle, die mittlerweile internationale Dimensionen angenommen haben, hatte die AKP-Regierung kaum Spielraum für Widerstand. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die Regierung der NATO und Europa zugesichert hat, in den kommenden bewaffneten Auseinandersetzungen ein „verlässlicher Partner“ zu sein. Damit hat sie sich abermals der Linie der USA untergeordnet und betrachtet dies zugleich als große Chance.


8. So wurde der „Lösungsprozess“, der seit Langem auf eine günstige internationale Konjunktur wartete, dieses Mal umfassender und entschlossener auf die Tagesordnung gesetzt. Um die vom internationalen System als akzeptabel bewertete Option „Weiter mit Erdoğan“ mit der gesellschaftlichen und politischen Realität in der Türkei in Einklang zu bringen, musste das Bündnis der letzten Wahlen aufgelöst werden. Die Distanzierung der DEM-Partei von der CHP und die Tatsache, dass sie eine Wiederwahl Erdoğans weder aktiv unterstützte noch ihm im Weg stand, sondern sogar die Möglichkeit bot, zu einer neuen Verfassung beizutragen, die der AKP Macht und Legitimität verleiht, beschleunigten den Lösungsprozess. Der seit Jahren von Staatsvertretern und Öcalan gemeinsam vorbereitete Plan wurde überarbeitet und umgesetzt.


9. Dieser Lösungsprozess hat – solange er die bewaffneten Auseinandersetzungen beendet – in jedem Fall einen positiven Aspekt. Das Ende eines Konflikts, der die arbeitenden Menschen gegeneinander aufbringt, sowie die Tatsache, dass die Idee der Brüderlichkeit zu einer „offiziellen” Position wird, können im Rahmen einer unabhängigen und revolutionären Strategie betrachtet ein Klima schaffen, das den Weg in eine hellere Zukunft für dieses Land erleichtert.


10. Doch der hier in seinen Grundzügen skizzierte internationale und regionale Hintergrund dieses Prozesses sollte Aufschluss über den Preis des erwähnten positiven Aspekts geben. Die „Kurdenfrage“ wurde durch dieses System in einen Zustand der Unlösbarkeit versetzt. Die imperialistischen Länder haben durch systematische Eingriffe zu dieser Blockade beigetragen. Die kurdische nationalistische Bewegung steht nach einem ideologischen Wandel, den sie im Laufe eines halben Jahrhunderts durchlaufen hat, nun mit einer „Lösung” da, die mit den ursprünglichen Beweggründen ihrer Gründung kaum noch etwas zu tun hat – und hat dabei ihre breite gesellschaftliche Basis weitgehend mitgenommen. Großbritannien und die USA sind zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit sei, diesem „Problem“ eine neue Form zu geben. Die AKP-Regierung hat hingegen beschlossen, ihre ausweglose Lage in eine Chance zu verwandeln. Auch die Organisation selbst hat angesichts der Unüberwindbarkeit des von ihr geschaffenen Öcalan-Kults begonnen, nach Wegen zu suchen, um aus dem Prozess neue Möglichkeiten zu schöpfen. Wer am Ende zu den Gewinnern oder Verlierern gehören wird, wird von der Zeit, dem Machtkampf zwischen all diesen Akteuren sowie von den Eingriffen weiterer Kräfte in der Türkei und der Region bestimmt.


11. In diesem Gesamtbild ist es unvermeidlich, dass dem Lösungsprozess ganz unterschiedliche Bedeutungen zugemessen werden. Die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der AKP und des Staatsapparats lassen sich bereits anhand der Aussagen von Erdoğan und Bahçeli erkennen. Eine ähnliche Situation ist auch auf Seiten der PKK bekannt. Es ist möglich, dass sich diese natürlichen Unterschiede im Laufe der Zeit angleichen, aber ebenso denkbar ist eine Zuspitzung der Spannungen. Aus unserer Sicht sind jedoch weniger diese Differenzen als vielmehr die vorherrschenden ideologischen und klassenmäßigen Merkmale des Prozesses von Bedeutung.


12. Wie die Akteure des Lösungsprozesses seit Jahren betonen, basiert das Fundament der türkisch-kurdischen „Brüderlichkeit” auf Religiosität. Zu Recht wird diese Grundlage als sunnitischer Islamismus bezeichnet, der mit dem neo-osmanischen Ansatz im Einklang steht. Die Infragestellung der Gründung der Republik Türkei, des Vertrags von Lausanne und der heutigen Grenzen passt vollständig in dieses ideologische Fundament und ist – ungeachtet der offiziellen Verlautbarungen – unausweichlich.


13. Mit den neuen Möglichkeiten, die sich für das kurdische Kapital – einen wesentlichen Bestandteil der türkischen Bourgeoisie – im Irak und in Syrien eröffnen, wird eine neue Phase der Integration in die bestehende Klassenherrschaft eingeleitet. Die türkisch-kurdische „Brüderlichkeit” wird sich dabei als Brüderlichkeit des Kapitals herausstellen. Für die kurdische Armenbevölkerung wird daraus nichts anderes als mehr Ausbeutung und Armut hervorgehen.


14. Diese Kapitalbrüderlichkeit oder „Friedensordnung” ist grundsätzlich fragil. Die neuen Kräfteverhältnisse in der Region können den innertürkischen Burgfrieden des Kapitals rasch in Spannungen oder gar Konflikte verwandeln. Sollte darüber hinaus der Dialog mit dem Iran scheitern, könnte der derzeitige „Kapitalfrieden“, den der Lösungsprozess hervorgebracht hat, im Rahmen einer Iran-Operation des internationalen Systems einen hohen Preis zahlen müssen.

15. In jedem Fall steht die Türkei an einem Scheideweg. An diesem historischen Wendepunkt ist der Wiederaufbau des republikanischen Erbes des Landes eine absolute Notwendigkeit. Ob ein Teil der Republikaner dies akzeptieren will oder nicht, ist unerheblich, denn eine Debatte und Neubewertung sind unvermeidlich. In einer Zeit, in der die Gründungsdynamiken der Republik Türkei infrage gestellt werden und diejenigen, die mit der Republik abrechnen wollen, sagen: „Jetzt ist der richtige Moment“, ist es unsere Pflicht, die Ursachen der Katastrophen, die dieses Land ereilt haben, und der tiefgreifenden Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, zu benennen und unserem Volk verständlich zu machen.


16. Die Republik Türkei wurde nach einem revolutionären Kampf als revolutionäres Projekt gegründet. Wir werden niemals zulassen, dass die Ereignisse der folgenden Jahre diese Tatsache überdecken. Der Widerstand gegen die imperialistische Besatzung und gegen den Sultan sowie die Krönung dieses Kampfes durch die Gründung der Republik und die Umsetzung bestimmter fortschrittlicher Reformen sind die Quelle der historischen Legitimität der Bewegung unter der Führung Mustafa Kemals. Eine realistische Bewertung jener Zeit zeigt, dass es in unserer Region erhebliche Hindernisse für die Verwirklichung eines noch weitergehenden Projekts gab. Dies gilt auch für das kurdische Volk, das unter der Herrschaft von Stammesführern, Großgrundbesitzern und religiösen Orden stand. In diesem Zusammenhang kann die Behauptung, reaktionären Figuren wie Scheich Said sei historisch Unrecht geschehen, den kurdischen Menschen nicht dienen, sondern lediglich den heutigen neo-osmanischen Bestrebungen in die Hände spielen – unabhängig davon, wie viel Mühe man sich gibt.


17. Es ist eine bekannte Tatsache, dass während des Befreiungskampfes ein nicht zu unterschätzender Teil der anatolischen Bevölkerung dem Widerstand gegen die Besatzung eher gleichgültig oder ablehnend gegenüberstand. Kriegsmüdigkeit, Armut, Fatalismus und die Propaganda des Sultans führten dazu, dass weite Teile der Bevölkerung den damaligen Zustand hinnahmen. Dabei ist jedoch unbedingt zwischen der stillschweigenden Hinnahme der Lage durch die arme Landbevölkerung und der bewussten Kollaboration des grundbesitzenden Adels sowie der wohlhabenden Schichten zu unterscheiden. Dies gilt ebenso für jene, die sich aktiv am Befreiungskampf beteiligten: Die Erwartungen derjenigen, die ihr Leben für die Unabhängigkeit riskierten, unterschieden sich grundlegend von denen, die sich finanziell beteiligten und den Prozess als lohnende Investition betrachteten.
Nach dem Ende des Befreiungskrieges bereicherten sich die Besitzenden – teils durch die Aneignung von Eigentum und Betrieben der aus Anatolien vertriebenen nicht-muslimischen Bevölkerung, teils durch die Vergrößerung ihrer eigenen Ländereien –, während sich die Lage der armen Landbevölkerung kaum veränderte. Die Behauptung, dass mit dem Jahr 1923 die Klassenwidersprüche des Osmanischen Reiches aufgehoben oder die soziale Ungerechtigkeit reduziert worden seien, lässt sich nicht belegen. Ein Teil der heute bestehenden enormen sozialen Ungleichheiten im türkischen Kapitalismus sowie die Ursprünge mancher großer Unternehmerfamilien lassen sich bis in diese Zeit zurückverfolgen. Diese klassenmäßige und historische Wahrheit schmälert jedoch nicht den revolutionären Wert des Befreiungskampfes und der Gründung der Republik. Die Tatsache, dass die subjektiven und objektiven Bedingungen für einen grundlegenden Wandel zu jener Zeit noch nicht gegeben waren, ändert nichts an der heutigen Legitimität und Aktualität des Anliegens der Nachkommen jener anatolischen Bäuerinnen und Bauern, die damals ihr Leben für den Unabhängigkeitskampf eingesetzt haben: Als Arbeiter und Werktätige wollen sie diesem Land, das sie aufgebaut und befreit haben, gegenübertreten und ihre Rechte gegenüber den Konzernen einfordern.


18. Die Infragestellung des Vertrags von Lausanne und ganz allgemein der Grenzen unseres Landes – sei es auf Grundlage der These, den Kurd*innen seien ihre Rechte vorenthalten worden, oder aus Kritik an der angeblich feigen Entscheidung Mustafa Kemals und seiner Gefährten, sich mit Anatolien zu begnügen – wird für alle, die heute in dieser Region leben, zerstörerische Folgen haben. Neben den Versuchen, den Vertrag von Sèvres wiederzubeleben, schaffen auch Diskurse über eine angeblich historische Berechtigung zur Ausweitung der türkischen Grenzen in die eine oder andere Richtung zunehmend einen Nährboden für blutige Auseinandersetzungen auf dem Balkan, in der Ägäis, im Kaukasus sowie entlang der Achse Syrien–Irak–Iran. Der Versuch, auf ethnischer Grundlage historische Legitimität zu konstruieren, wird keinem Volk Frieden bringen, denn es ist unmöglich zu bestimmen, ab welchem Zeitpunkt in der Geschichte man beginnt und wo man aufhört.


19. Nachdem die Kommunist:innen erklärt haben, dass sie sich der Verantwortung für eine gesunde Debatte innerhalb des republikanischen Erbes nicht entziehen werden, ist es von großem Wert, dass Initiativen wie die Bildung einer „Volksvertretenden Versammlung der Türkei“, die Gründung angeschlossener lokaler Räte und die Einberufung eines „Republikanerkongresses“ in Gang gesetzt wurden. Die TKP vertrat schon früh die Auffassung, dass ein neuer Aufbruch nur möglich ist, wenn er sich auf die arbeitenden Klassen stützt und die Grundlagen des Kapitalismus infrage stellt. Sie handelte mit der Voraussicht, dass sich das Land einem neuen Wendepunkt nähert. Nun ist dieser Wendepunkt erreicht. Dem Kapitalfrieden muss die Brüderlichkeit der türkischen und kurdischen Werktätigen entgegengestellt werden. Es ist an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln, damit politisierte Bürger*innen kurdischer Herkunft sowie Politiker*innen und Intellektuelle, die die Grundlage des derzeitigen Prozesses nicht akzeptieren wollen, Teil eines neuen republikanischen Aufbruchs werden können.


20. Dafür müssen wir klar benennen, gegen wen wir kämpfen. Unser Kampf richtet sich nicht gegen einen abstrakten, seiner klassenmäßigen Bedeutung beraubten Imperialismus, sondern gegen den Imperialismus als Weltsystem der multinationalen Monopole. Wir müssen deutlich machen, dass Institutionen wie die NATO im Interesse eben dieser Monopole gegründet und strukturiert wurden, dass auch in der Türkei die Herrschaft ausbeuterischer Monopole besteht, dass das Großkapital in all seinen Bestandteilen für die AKP-Herrschaft und den Verfall jener Werte verantwortlich ist, die mit der Republik auf diesem Boden verankert wurden. Wir müssen der arbeitenden Bevölkerung begreiflich machen, dass Konzerne und religiöse Sekten das Land Hand in Hand an den Rand des Abgrunds geführt haben, dass es so etwas wie „guten Kapitalismus“ nicht gibt und dass man dem Schlechteren nicht entkommen kann, ohne das Gute und eine radikale Befreiung anzustreben. All dies müssen wir der arbeitenden Bevölkerung verständlich machen.


21. Eine der größten Gefahren in diesem Prozess besteht darin, dass der feindselige Diskurs, den frühere Regierungen und die AKP der Gesellschaft in Bezug auf die Kurdenfrage über lange Zeit aufgezwungen haben, nun von republikanischen Kreisen übernommen wird, die der AKP entgegentreten wollen. Diese Sprache hat das Land und die Gesellschaft in ihren Bann gezogen und letztlich den Boden für den heute entstehenden, vom Imperialismus gesteuerten „Frieden des Kapitals“ bereitet. Die AKP und die ihr nahestehenden Medien haben diese Sprache über Nacht fallengelassen. Sie ist rückständig. Das republikanische Erbe der Türkei braucht keine Rückständigkeit, sondern Mut und Konsequenz.


22. Die Kommunistische Partei der Türkei wird in der kommenden Zeit gegen die Zeit arbeiten, um den Aufschwung des vereinten Kampfes der arbeitenden Bevölkerung voranzutreiben – der grundlegenden Kraft für die Einheit, Brüderlichkeit, Unabhängigkeit, den Wohlstand und die Gleichheit des Landes. Dieser Kampf muss frei von identitätspolitischen Ansätzen, nationalistischen Positionierungen und liberalen Täuschungsmanövern geführt werden. Nur wenn er ein klares und verständliches Ideal für die Türkei formuliert, kann er Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, die derzeit gezwungen sind, ihre Identität als Türkinnen und Türken oder Kurdinnen und Kurden zu hinterfragen oder neu zu bewerten, aus ihrer Ohnmacht befreien.


23. Ein weiteres zentrales Thema ist es, die gesellschaftlichen Gruppen, die der AKP kritisch gegenüberstehen, aus einer „auf Ekrem İmamoğlu zentrierten” Politik zu befreien. Die gegen Ekrem İmamoğlu gerichtete Operation ist politisch motiviert und stellt einen Angriff auf das Recht dar, zu wählen und gewählt zu werden. Gegen diesen Angriff muss Stellung bezogen werden, ohne jedoch in die von der Regierung gestellte Imamoğlu-Falle zu tappen.
Ekrem İmamoğlu hat im Istanbuler Rathaus ein von der AKP aufgebautes System übernommen, arbeitet weitgehend mit denselben Unternehmen zusammen und versucht zugleich, dieses System für seine eigenen politischen Ziele zu nutzen. Dieses System, das von großen Konzernen und verschiedensten religiösen Sektenstrukturen als Quelle für Profit und Begünstigung genutzt wird, ist in keiner Weise verteidigenswert. Die AKP beabsichtigt, die Opposition um İmamoğlu durch eine politische Operation zu polarisieren und anschließend den Teil des Systems, den sie selbst gut kennt und bei Bedarf opfern kann, öffentlich anzugreifen oder gar auszuräumen. Auf diese Weise soll Ekrem İmamoğlu ausgeschaltet werden – und zugleich soll ein breites gesellschaftliches Lager, das auf ihn als Hoffnungsträger gesetzt hat, gemeinsam mit ihm entmutigt und entmachtet werden.


24. Es ist bekannt, dass die AKP den sogenannten Lösungsprozess mit dem Entwurf einer neuen Verfassung verknüpfen möchte. Nach 23 Jahren an der Macht ist deutlich geworden, welche Türkei sich Erdoğan und sein Umfeld vorstellen und was sie der Gesellschaft anzubieten haben. Unabhängig vom konkreten Inhalt einer neuen Verfassung ist offensichtlich, dass diese dem Gestaltungswillen der AKP dienen soll. Zudem wurde immer wieder erlebt, dass die AKP-Herrschaft durch das, was in der Verfassung geschrieben steht, in keiner Weise eingeschränkt wurde. Insofern werden kosmetische Änderungen in einem neuen Entwurf nichts am eigentlichen Kern ändern.
Wir brauchen keine weitere Konterrevolutionsverfassung, die – aufbauend auf der bereits reaktionären Verfassung vom 12. September (Militärputsch von 1980) – das AKP-Regime institutionell festigt und ihm Legitimität verschafft. Die künftige Verfassung der Türkei muss revolutionär, gesellschaftlich orientiert, egalitär, antiimperialistisch und säkular sein. Sie muss Ausbeutung, Militarismus und Rassismus verbieten und sich verpflichten, den Bürgerinnen und Bürgern grundlegende Bedürfnisse wie Bildung, Gesundheit, Wohnraum, Wasser und Heizung kostenlos bereitzustellen. In diesem Sinne wird die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) ihre klare Haltung zum Thema neue Verfassung in keiner Weise ändern.


25. Die Vorstellung, die Regierung habe alles im Voraus geplant, alle Hindernisse nacheinander überwunden und eine vor Jahren entwickelte Strategie makellos umgesetzt, findet erneut breite Zustimmung. Wie wir stets betont haben, liegt der Hauptgrund für das ständige Schwanken der breiten Bevölkerung zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit in der Art von Politik, die die sogenannten „oppositionellen“ Kreise der Gesellschaft aufzwingen. Anstatt einen konsequenten, prinzipienbasierten und programmatisch fundierten Kampf zu führen, wurde ein auf Einzelpersonen und einfache Rettungsrezepte gestützter Politikstil an den Tag gelegt. Deshalb schlägt die Hoffnung von Millionen Menschen, die mit der AKP unzufrieden sind, oft sehr schnell in tiefe Resignation um.
So glaubte ein großer Teil der Bevölkerung nach den Protesten rund um Saraçhane, dass die Tage der AKP gezählt seien, während er angesichts des Prozesses zwischen der AKP und der DEM-Partei nun entmutigt ist und die Legende weiterträgt, die AKP sei unbesiegbar. Die TKP bleibt von dieser Spirale aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit verschont, weil sie sich nie Illusionen über die TÜSİAD, über europäische Staaten, die USA, „gute” religiöse Orden oder ehemalige AKP-Politiker gemacht hat. Die TKP betont bei jeder Gelegenheit, dass ein Kampf gegen die AKP ohne grundlegende Infragestellung des Systems nicht möglich ist, und erinnert daran, dass das Problem nicht allein im „Palastregime” liegt.


26. Es ist nicht zutreffend, dass die AKP alles nach ihrem Willen durchsetzen und das Land beliebig lenken kann. Wie wir seit Monaten betonen, befindet sich die Türkei in einer tiefen Regierungskrise. Verschiedene Akteure unternehmen Schritte, um diese Krise im Sinne ihrer eigenen Interessen zu überwinden. Der neue Lösungsprozess ist Teil des Versuchs, die Regierungskrise durch einen kapitalistischen Konsens zu bewältigen. Die seit 2023 zu beobachtende Verbesserung der Beziehungen der Türkei zu den USA und Großbritannien hat sich in den letzten Monaten – unter Einbeziehung Israels – zu einer umfassenderen und intensiveren Entwicklung ausgeweitet und beschleunigt. Auch wenn die Richtung der Unterstützung, die der AKP aus der imperialistischen Welt zukommt, klar ist, sind längst nicht alle Dimensionen dieser Entwicklung sichtbar. Noch wichtiger ist, dass bisher unklar bleibt, was im Gegenzug für diese Unterstützung versprochen wurde. Sicher ist: Der sogenannte innere Kapitalfrieden oder -konsens, den man in der türkischen Innenpolitik zu etablieren versucht, spiegelt sich außenpolitisch in der Entscheidung wider, Teil eines von den USA geführten „Friedensprojekts“ zu werden – gemeinsam mit Israel, Ägypten und Saudi-Arabien im Rahmen eines neuen regionalen Systems mit wirtschaftlichen, politischen und militärischen Komponenten.
Doch es muss klar sein: Solche Arten von „Frieden” beruhigen eine Krise, während sie zugleich eine neue heraufbeschwören. Ein „perfektes und harmonisches“ regionales US-Bündnis bedeutet neue Kriege. Und von einem System, das von Konzernen und religiösen Orden dominiert wird, darf im Inneren niemand Stabilität erwarten.


27. Die TKP betont mit Nachdruck: Es gibt keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Gegenüber steht uns ein gesellschaftliches System, das Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Willkür produziert und das Leben in allen Bereichen erschwert. Dieses System ist nicht reformierbar. Alle Versuche, es zu verbessern, kosten unserem Land und unserem Volk nur Zeit. Anstatt sich mit der vergeblichen Mühe abzugeben, das bestehende System zu „reparieren”, muss ein wirklich gutes und gerechtes System aufgebaut werden.
Die Republik Türkei ist unser Land. Anstatt ihre Gründung oder ihre Grenzen infrage zu stellen, müssen wir die Ursachen des über uns hereingebrochenen Elends erkennen, diese Ursachen an der Wurzel packen und unser geliebtes Land in eine bessere, hellere Zukunft führen. Anstatt falscher „Lösungen“, die neue Konflikte und Krisen mit sich bringen, sollten wir den Weg einer großen, historischen Umwälzung einschlagen. Dieser Weg wird von Menschen getragen, die ihrer Vernunft, ihrem Gewissen, ihrer Moral und ihrer Arbeit vertrauen und an ihr Land, ihr Volk und die Menschheit glauben.


„Eine Türkei ohne Terror!“ Das klingt gut.
Und wie wäre es mit „Eine Türkei ohne Ausbeutung“?

Genau das werden wir gemeinsam verwirklichen.

Zentralkomitee der TKP