„Was war los?“

Türkei, ein Land der gesetzlosen Justiz?

Kampf zwischen den Gerichten

Seit vielen Jahren weisen wir darauf hin, dass die AKP die Berufsethik in den Müll geworfen und die Instanzen mit Richtern und Staatsanwälten besetzt hat, die das Recht nicht anerkennen, und dass die Türkei heute ein gesetzloses Land ist. In den letzten zwei Monaten haben sich eine Reihe von Ereignissen zugetragen die dies deutlich zeigen: Die beiden höchsten Justizinstitutionen des Landes liegen miteinander in Zwist.

Ein Beispiel aus vielen Fällen

Şerafettin Can Atalay, der in den letzten Jahren viele Menschen, die von der AKP und Erdoğan ins Visier genommen wurden, anwaltlich vertreten hat, wurde vor 2,5 Jahren auf direkte Anordnung von Erdoğan zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl das Verfassungsgericht befand, dass dieses Urteil aufgehoben werden solle, verweigerte das Kassationsgericht, die höchste Instanz in Strafsachen, das Urteil infolge des Einspruchs der Staatsanwaltschaft. Seitdem ist Atalay aus allgemein bekannten Gründen in Haft.

Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr wurde Atalay jedoch von der im November 2017 gegründeten Arbeiterpartei der Türkei (TİP) nominiert und zum Abgeordneten gewählt. Der Verfassung entsprechend hätte er unter Inanspruchnahme seiner parlamentarischen Immunität freigelassen werden müssen. Die Anordnung der Richter kam jedoch von höherer Stelle. Atalay wurde unter verschiedenen Vorwänden nicht freigelassen.

Das Verfassungsgericht hat entschieden

Can Atalay, der seinen Kampf um seine Rechte nicht aufgegeben hat, hatte das Recht, das Verfassungsgericht anzurufen, nachdem seine letzte Berufung vom Obersten Berufungsgericht, der höchsten Instanz des Landes, abgelehnt worden war. Das Verfassungsgericht entschied unerwartet, dass eine Verletzung seiner Rechte vorlag.

Der Kassationsgerichtshof erkannte die Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht an.

Der Kassationsgerichtshof erklärte jedoch, dass er diese Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht anerkenne. Der Kassationsgerichtshof beließ es nicht dabei und beschuldigte das Verfassungsgericht, „verfassungswidrig“ zu handeln. Er reichte eine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein und forderte eine Strafverfolgung.

So kam es zu einem unvorstellbaren Ereignis in einem Rechtsstaat. Eine der beiden höchsten Institutionen des Justizwesens widersprach der anderen, dem Verfassungsgericht, das an der Spitze des Justizwesens steht, nicht nur aus rechtlichen Gründen. Es hat auch erklärt, dass es das Verfassungsgericht nicht anerkennt.

Auch der Gesetzgeber (das Parlament) erkennt das Gesetz nicht an

Und das war noch nicht alles. Wie nie zuvor in seiner 100-jährigen Geschichte hat das Parlament, das mit Reaktionären, politischen Islamisten, Faschisten, Nationalisten und jenen, die nur nach materiellem Gewinn streben, besetzt ist, einen Schritt unternommen, der auf die Beschreibung eines „gesetzlosen Staates“ passt: Es beschloss, Atalay seine parlamentarischen Rechte zu entziehen.

Tayyip Erdoğan ebnete diesen Weg

Interessanterweise ist es nicht diese Entscheidung des Parlaments, die in Erdoğans Ein-Mann-Regime nicht mehr funktioniert, sondern die Tatsache, dass die Mehrheit der hohen Richter in beiden Justizinstitutionen direkt von Tayyip Erdoğan ausgewählt und ernannt wurde. Diese Rivalität ist Ausdruck der Risse zwischen bestimmten Interessengruppen innerhalb der AKP.

Dass ein Gericht weigert, die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs anzuerkennen und umzusetzen, ist nicht überraschend. Erdoğan hatte 2018 diesen Weg geebnet, indem er offen sagte: „Ich erkenne die Verfassung nicht an“.