Ist Politik verboten worden?
Truppen werden in Auslandseinsätze geschickt, aber eine politische Debatte darüber ist verboten.
Kemal Okuyan, Mitglied der ZK der TKP
Man möchte über die Versendung von Soldaten ins Ausland debattieren, doch es wird verboten, weil es eine „nationale“ Angelegenheit sei. Man möchte ans Strafregister von „Verbündeten“ in Militäroperationen erinnern, doch es wird überhört, weil diese nun „nationale“ Kräfte seien. Man fragt nach Verlusten bei den Waffengängen, doch es wird ignoriert, weil es ein „nationales“ Geheimnis sei.
Es gibt ein Erdbeben, aber eine politische Debatte darüber ist verboten.
Gebäude stürzen ein, man fragt nach denen, die den Bau genehmigten, aber wird zum Querulanten erklärt. Man hinterfragt den Roten Halbmond, weil sie Geld von Bürgern zusammentragen und an Stiftungen weitergeben, aber wird zum Umstürzler erklärt. Man kritisiert die Mängel bei den Rettungsarbeiten, aber wird zum Verräter erklärt. Man deckt auf, dass die Hilfen nicht gleichberechtigt verteilt wurden, aber wird zum Separatisten erklärt.
Die Wirtschaft geht den Bach unter, aber eine politische Debatte darüber ist verboten.
Man belegt das verschwenderische des Staates, während das Volk dem Elend ausgesetzt ist und es heißt, das sei „Verleumdung“. Man macht auf die Inflation und die immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten aufmerksam und es heißt, man sei das Instrument „ausländischer Mächte“. Man bringt die okkupierten Rechte der ArbeiterInnen auf die Tagesordnung und es heißt, das seien „terroristische Tendenzen“. Man deckt die Ausplünderung und den Raub durch den Brücken- und Straßenbau auf und es heißt, das sei „ehrlos“.
Gerichte fällen Urteile, die Gerechtigkeit wird verdorben, aber eine politische Debatte darüber ist verboten.
Man widerspricht der unfairen Entscheidung und es heißt, es sei ein Eingreifen in die Justiz. Man lehnt einen grundlosen Gesetzesentwurf ab und es heißt, der nationale Wille werde abgelehnt. So Zufall will, fordert man einmal die Umsetzung des „Gerichtsurteils“ und es heißt, es sei der Versuch, die Regierung zu stürzen.
Also kritisiert man die Exekutive, wird man zum Putschisten. Kritisiert man die Legislative, wird man auch zum Putschisten. Kritisiert man die Judikative, wird man sowieso zum Putschisten.
Dann …
Eine Pandemie bricht aus, politische Debatten sind verboten.
Ein 18-jähriger Mensch, der seinen nur 100 Followern in den sozialen Medien etwas Gewöhnliches mitteilt, wird im Morgengrauen festgenommen. Begründung? „Kontakte zu illegalen Organisationen werden ermittelt!“ Niemand geht aber gegen den bigotten „Professor“ vor, der im Fernsehen vor Millionen von Menschen dummes Zeug erzählt und behauptet, „uns wird nichts passieren“. Begründung? Er repräsentiere die spirituellen Werte des Volkes.
Man darf nicht fragen, „Warum habt ihr Menschen zur Omrah geschickt, obwohl sich die Pandemie in Saudi-Arabien bereits ausgebreitet hatte?“. Die heiligen Werte kämen hier wieder ins Spiel. Auch das Chaos bezüglich der Quarantänemaßnahmen für die aus der Omrah zurückkehrten, zählt zu denselben Werten.
Die Wahrheit ist, dass Pilgerkonvois, Abschiedsfeiern für angehende Soldaten, Konvois eines Mafia-Führers den spirituellen oder nationalen Werten zuzuordnen sind. Hier gelten keine Verbote, keine Vorsichtsmaßnahmen, keine Regeln. Verboten ist aber zu diesen Themen politische Debatten zu führen.
Außerdem ist es ein Verbrechen, die veröffentlichten Todeszahlen durch die Pandemie zu bezweifeln. Es gibt Fälle in diesem Land, bei denen die Testergebnisse nicht einmal dem Patienten mitgeteilt wurden. Diese Menschen wurden sogar ohne irgendeine Erklärung zehn Tage lang im Krankenhaus isoliert. Die Mitteilung von Fallzahlen gilt beinahe als Spionage.
Erinnern wir uns zurück an den Bürgermeister, der die Bürger kostenlos mit Wasser versorgen wollte und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Jetzt ist es ein Verbrechen, Spenden zu sammeln und dem Volk Hilfe zukommen zu lassen. Als wäre das nicht schon grenzwertig genug, gilt nun das Verteilen von kostenlosem Brot durch Kommunen als Verbrechen. Die Bürgermeister würden sich dadurch „in die Angelegenheiten des Staates einmischen, sich dieser Rolle anmaßen“, heißt es.
Ist das nun die Stärke oder die Schwäche der Regierung? Die Antwort liegt auf der Hand. Sie sind Regierungsunfähig.
Das Politische kann weder so noch anders, nicht verhindert werden. Das Leben selbst ist Politik. Und revolutionäre Politik ist ein Eingreifen in das Leben, es ist ein Umwandeln. Dies kann nicht eingeschränkt werden.
Es kommt ein Krieg, ein Erdbeben, eine Krise, eine Epidemie und löst politisches Handeln unter den Menschen aus. Die Regierung hat keine Möglichkeiten dies zu verhindern. Es mag verlockend sein, mit Geschrei, Beschimpfung, Beschuldigung, Drohung und Inhaftierung zu „regieren“, aber dies ist eine Frage der „Macht“, eine Frage der „Kräfteverhältnisse“.
Der König ist nun nackt.
Jetzt geht es hauptsächlich darum, wohin die gesellschaftliche Energie, welche die Machthaber erzwingen mag, fließen wird … Wird nur mit der AKP abgerechnet oder wird das gesamte System mit infrage gestellt?
Die drei Vektoren der Politik werden in den kommenden Tagen klarer werden.
Die Politik der AKP, die versucht, politische Debatten zu dirigieren und zu unterdrücken;
die Politik derer, die das System von der AKP übernehmen wollen
und die Politik derer, die sagen, „dieses System gehört abgeschafft“.
Ich wünsche euch viel Politik.